Sonntag, 20. August 2017

Iknimaya Neyriyä / Neyris Iknimaya

Neyri zeykoyu lu set
(Neyri ist nun eine Heilerin)

Ein Geräusch lässt mich erwachen. Es ist ein noch ungewohntes Geräusch, aber ich erkenne den Ruf von Neyris Ikran genau. Stolz erfüllt mich, denn nicht einmal zwei Tage sind vergangen, seit meine beste Schülerin vor dem ganzen Clan der Rey'engya ihre Prüfung zur Heilerin abgelegt hat. Ich verweile noch auf meinem Lager und denke nach. Viel Zeit ist vergangen, sehr viel Zeit sogar. Erinnerungen kommen mir in den Sinn. Eines Tages brachte Neo, der tawtute (Himmelsmensch), der inzwischen wohl getötet wurde, ein irgendwie verstörtes, sehr aggressiv wirkendes und nicht unbedingt sauberes Na'vi Mädchen in unser Lager, das nicht nur Seys und mein Interesse, sondern auch das des gesamten Clans auf sich zog. Nicht nur, dass sie irgendwie verwahrlost aussah, verwunderte uns, sondern viel mehr, dass sie die Sprache unseres Volkes nicht beherrschte und anstelle dieser in der Sprache der sawtute (Himmelsmenschen) zu uns sprach. Doch Eywa hatte, wie ich nun weiß, einen besonderen Plan für Neyri...


Ich erinnere mich an einen Abend, an dem der ganze Clan der Rey'engya und auch einige der Maguyuk (befreundeter Clan)  rund um unser Clanfeuer herum sitzen und wir uns die Erlebnisse und auch Vorkommnisse der letzten Tage erzähen. Neyri hat bereits einige Tage im Clan verbracht und ich spüre, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt. Aber ich vermag nicht zu erkennen, was es ist. Sie ist sehr still, beinahe wirkt sie eingeschüchtert, wie ein Tier das lange Zeit eingefangen ist. An diesem Abend aber beginnt Neyri irgendwann zu sprechen und was sie erzählt, klingt wirr und es ist so grausam, dass ich den Schmerz, den sie erfahren haben muss, beinahe selber spüren kann. Die Gesichter rund um das Feuer verfinstern sich zusehends, doch niemand wagt es, Neyri, bzw. mich, die ihre Worte übersetzen muss, zu unterbrechen.

Neyri wird, während sie von ihrer Gefangenschaft bei den sawtute (Himmelsmenschen) erzählt, immer wütender und dieses Gefühl ergreift mich ebenso, wie auch Korlan, Sey,  und alle, die mit uns am Feuer sitzen. Sie wurde, als sie noch fast ein Baby war, von ihren Eltern und ihrem Clan getrennt. Die sawtute (Himmelsmenschen) hatten ihren Kelutral (Heimatbaum) angegriffen und fast den ganzen Clan, darunter auch Neyris Eltern, getötet. Neyri hatten sie gefangen und in den kalten Steinhütten der Menschen in einem sehr kleinen Raum eingesperrt. Neyris Erzählungen werden immer grausamer. Die Menschen schlugen und beschimpften sie, ein Kind, wieder und wieder. Diese feigen, hinterhältigen Dämonen wollten Neyris Willen, zu leben, brechen und sie hätten es auch beinahe geschafft.

So erklärt sich auch, weshalb dieses Mädchen niemals die Sprache des Volkes gelernt hat, bei dem sie geboren wurde. Ebenso fehlten ihr wichtige Dinge, die jedes Kind ganz von selbst lernt, indem es nur mit seinen Eltern oder dem Clan und anderen Kindern zusammen ist. Neyri musste beinahe wie ein Baby alles von vorne lernen.
Doch ohne, dass sie wohl etwas davon ahnte, hatte Eywa ihr etwas besonderes gegeben. Etwas, das ich bisher so noch bei keinem Na'vi bemerkt habe. Es ist beinahe unmöglich, Neyris Willen zu brechen. Was sie sich in den Kopf gesetzt hat, das führt sie auch zu Ende. Eine Eigenschaft, die sie nun zu einer sehr guten Heilerin gemacht hat und die ihr immer wieder in ihrem Leben helfen wird.
Sie begann nicht nur das Jagen zu lernen, sie verlangte danach. Sie begann nicht nur alles über Pflanzen und das Heilen zu lernen, sie verlangte danach. Sie begann nicht nur unsere Sprache lernen, sie verlangte es. All dies ließ mich zuversichtlich werden und so lehrte ich, was immer ich sie lehren konnte. Ebenso lernte sie von allen anderen des Clans die verschiedensten Dinge.
Doch eines stand ihr und uns dabei immer ein wenig im Wege: Ihr Geist war durch die fortwährenden Erniedrigungen und Verletzungen der sawtute (Himmelsmenschen) verletzt worden und es kostete mich sehr viel Kraft, diesen immerhin ein klein wenig zu heilen und ich weiß nicht, ob er jemals vollständig geheilt werden wird. Doch ich werde nicht aufgeben...

Neyri entwickelte sich zu einer selbstbewussten, jungen Frau und es kam der Tag, an dem ich mir die Frage stellen musste, ob mein Herz nun noch für Sey'syu schlägt oder für sie, meine Schülerin?
Neyri lernte viele Dinge sehr schnell. Sie brachte ihre Ideen, ihre Vorschläge und auch ihr Wissen über die sawtute (Himmelsmenschen) in viele Gespärche ein und ich spürte und spüre immer noch, dass Sey ihr oftmals mehr zuhört, als seine Körpersprache es verrät. Jeder im Clan respektiert sie, aber niemand bemitleidet sie für das, was sie erlebte, denn dies ist ihre Geschichte und es ist Teil ihres Lebens.

Nach langer Zeit steht sie heute nun vor Sey und mir, umringt von dem Clan der Rey'engya und der Maguyuk (befreundeter Clan) und sie macht einen selbstbewussten Eindruck, der keinerlei Zweifel offen lässt. Sie bittet mich um die Prüfung zur Heilerin und Sey, in die Iknimaya (schwebenden Berge) hinauf zu dürfen, um ihren Ikran (Banshee) zu bekommen.
Es erfüllt mich mit großem Stolz, diese Worte von Nyri zu hören und ich merke auch Sey an, dass er wohl schon geraume Zeit, wie es seine Art ist, darauf zu warten scheint, dass ein Schüler oder eine Schülerin mit dieser Bitte vor ihn tritt.

Ich spüre, wie es still um uns drei wird, die wir am Feuer vor dem Clan stehen, als Neyri mit festem, sicherem Tonfall sagt. "Ich habe viel gelernt und ich bin bereit, eine Heilerin des Clans zu werden, ma Kxìrya." Dann geht ihr Blick zu Sey und sie fährt ohne Pause und ebenso selbstbewusst fort: "Wenn ich meine Prüfung vor der Tsahìk (spirituelle Clanführerin) angelegt habe, bitte ich darum, dass mich ein Jäger zu den Ikranen hinauf führt, um dort meine erste, große Prüfung abzuschließen."
Ich spüre, wie Sey mich anschaut, erwidere seinen Blick und nicke ihm zu: "Tam (Ok). Ich werde die Prüfung vorbereiten." ist meine knappe, aber aufrichtige Antwort. Sofort mache ich mich auf den Weg in unsere Höhle, um die Prüfung vorzubereiten. Neyri wird es nicht leicht haben...

Neyris erste Aufgabe besteht darin, den Weg zum nächsten Ort eines Heilmittels zu beschreiben, wobei ich ihr einen Ort nenne, von dem aus sie diesen Weg beschreiben muss.
Die zweite meiner insgesamt drei Aufgaben, die Neyri zu lösen hat, besteht darin uns zu beweisen, dass sie Anweisungen genauestens befolgen kann. Als Heilerin muss der Clan sich jederzeit auf sie verlassen können. Daher muss sie einen Stein, den ich im Innern einer Röhrenpalme versteckt habe, nur nach meinen Anweisungen finden und zu mir zurück bringen.
Die letzte Aufgabe wird zugleich für ihre Iknimayaprüfung von Vorteil sein, denn ich lasse sie einen Tee kochen, der uns für den beschwerlichen Weg stärken wird.
Alle drei Aufgaben löst Neyri, wie ich es von ihr gewohnt bin, schnell, zuverlässig und sicher und ich muss Sey nur zunicken, damit er versteht, dass ich keinerlei Einwände habe, Neyri nun in seine und die Hände unserer Jäger zu geben.
Hatte Neyri sich zum Schutz bei den Prüfungen, die ich ihr stellte, Ne'wey als Begleitung ausgesucht, ist es nun Sey'Syu deren Hilfe sie erbittet, um sie zu den Iknimaya (schwebenden Bergen) zu begleiten. Diese Wahl macht mich glücklich, denn Sey'syu war in letzter Zeit irgendwie zu einer Außenseiterin des Clans geworden. Auch die Beziehung zwischen uns beiden hat sich wieder verbessert.

Während Sey'syu und Neyri sich auf den Weg machen, rufe ich meinen Ikran, der, wie ich es nicht anders von ihm gewohnt bin, nicht lange auf sich warten lässt. Mit einem lauten Kampfruf fliege ich in Richtung der Iknimaya davon, ahne jedoch noch nichts von dem, was mich auf dem Flug dorthin erwarten wird.
Um sicher zu stellen, dass Neyris Prüfung nicht durch irgendwelche hinterlistigen Aktionen oder Angriffe der sawtute (Himmelsmenschen) gestört wird, fliege ich in niedriger Höhe über den Wald und nähre mich dabei auch der kleinen Behausung der sawtute (Himmelsmenschen).
Zwar ist dort unten alles ruhig, dennoch erregt der laute und sehr aggressive Ruf eines Toruk (letzter Schatten) meine Aufmerksamkeit und ich entscheide mich, diesem nachzugehen.


Was ich dann erblicke, lässt mich wütend werden, denn ich entdecke nach einiger Zeit einen Toruk, der offenbar einen Metallikran (Helikopter) der sawtute (Himmelsmenschen) angreift. Es ist ein ungleicher Kampf, denn der Metallikran hat gegen das Tier kaum eine Chance, da der Toruk seine Krallen tief in das Metall am hinteren Ende des Fluggerätes gebohrt hat und die Maschine mit samt seinem Piloten darin hin und her schleudert. Ich halte mich zunächst zurück, weiß ich doch, dass dieses Tier jederzeit spontan seinen Plan ändern und mich angreifen könnte.

Doch der Toruk scheint sich überhaupt nicht um meine Anwesenheit zu kümmern und mir kommt der Gedanke, dass dies ein Zeichen Eywas sein könnte. Hat sie ihn geschickt, um auf diese Weise Neyri zu beschützen?
Dieser Gedanke lässt mich handeln und ich beschließe, mich dem Kampf gegen den Metallikran anzuschließen. Dicht an der Maschine vorüberfliegend ziehe ich meinen Bogen und schieße auf die durchsichtigen Wände, hinter denen ich den Piloten nun deutlich sehen kann. Er hat Mühe, das Gerät zu steuern und als er für einen kurzen Moment in meine Richtung schaut, schieße ich meinen Pfeil ab.

Ich erschrecke ein wenig, denn ich bemerke, dass mein Pfeil an dem Metallikran abprallt, als wäre es ein kleiner Stein, den man in flachem Winkel über das Wasser hüpfen lässt. Doch ich gebe nicht auf. Mein zweiter Pfeil durchbohrt die durchsichtige Wand und verursacht dort viele Risse, sodass der Pilot schlechter sehen kann. Mein Plan geht also auf, denn ich weiß, wenn der Pilot nichts sieht, hat der Toruk es leichter. Ein weiterer Pfeil trifft ebenfalls und nun ist dem Piloten die Sicht beinahe vollständig genommen und ich drehe ab, um zu Sey'syu und Neyri zu fliegen.
Der Metallikran schreit, raucht und brummt und es sind Laute, die mir sagen, dass er bald abstürzen wird. Möge Eywa mir es vergeben, dass dieser Absturz für viele Pflanzen und Tiere den Tod bedeuten wird. Meine Entscheidung, dass kein sawtute (Himmelsmensch) jemals wieder unser Lager betreten wird, war richtig, wie ich in diesem Augenblick erkenne.
Dann drehe ich ab, höre noch eine Zeit lang die Rufe des Toruk und ich glaube so etwas wie Dank darin zu erkennen. Immer noch scheint er gegen den Eindringling zu kämpfen. Dann höre ich, wie der Metallikran dumpf auf dem Waldboden aufschlägt.

Ich steuere Ya'rrì direkt auf die Iknimaya (schwebenden Berge) zu und erkenne schließlich, dass Neyri und Sey'syu bereits den letzten Felsen erreicht haben, von dem aus der Weg direkt zum Felsen der Ikrane (Banshees)  führt.
Um Neyri nicht zu verunsichern und damit ihre Prüfung zu gefährden, erzähle ich den beiden zunächst nichts von meiner Begegnung und begleite sie hinauf zu den Ikranen.
Meine numeyu (Schülerin) wirkt sehr selbstbewusst und sie ist sehr aufmerksam, als wir nacheinander das Lager der Ikrane betreten. Von nun an ist äußerste Vorsicht geboten, denn jederzeit könnten die Tiere versuchen, uns Eindringlinge aus ihrem Revier zu vertreiben.

Neyri trägt die Fangleine, das einzige Hilfsmittel, das bei dieser Prüfung erlaubt ist, bei sich. Zunächst scheinen die Tiere verwirrt und zugleich auch aggressiv zu sein, was mich an meine eigene Prüfung erinnert. Auch Sey'syu beobachtet die Tiere und Neyri genau, aber wir müssen uns zurückhalten und dürfen nicht eingreifen, ganz gleich, was auch geschehen wird. Alles, was nun geschieht, geschieht nach Eywas Plan.

Es dauert eine lange Zeit und einige der Tiere flüchten von dem Felsen, bis sich schließlich eines der Tiere abrupt umdreht und direkt auf Neyri zu geht und sie laut und aggressiv anbrüllt. Er hat sie erwählt und Neyris Reaktion zeigt mir, dass sie es ebenso in sich spürt. Eywa wird nun entscheiden, wer von den beiden diesen Kampf gewinnen wird...

Zuerst scheint es, die beiden beobachten sich nur gegenseitig und jeder wartet darauf, dass der andere entweder flüchten wird oder den ersten Angriff macht. Mein Herz pocht und ich spüre, als ich Sey'syu anschaue, dass auch sie etwas angespannt ist.
Dann, begleitet von einem ohrenbetäubenden, krächzenden Schrei beginnt ein Kampf auf Leben und Tod. Mehrmals rufen Sey'Syu und ich Neyri: "Tsaheylu!" ("Verbinde Dich!") zu, doch sie allein muss den richtigen Zeitpunkt wählen und nur sie allein kann diesen Moment spüren. Es ist ein Kampf, bei dem keiner dem anderen Zeit zum Durchatmen lässt und jeder versucht die kleinste Schwäche, den kleinsten Fehler des anderen auszunutzen.

Wieder und wieder feuern wir beide Neyri an, sich zu verbinden, aber sie ist nur mit sich und dem Tier beschäftigt und bekommt unsere Rufe scheinbar gar nicht mit. Dann schließlich gelingt es ihr, sich mit dem Ikran (Banshee) zu verbinden. Ich kann nicht beschreiben, was ich in diesem Augenblick in mir spüre. Meine 'ite (Tochter), das Mädchen, das einst verängstigt, verletzt und durch die Hände der sawtute (Himmelsmenschen) misshandelt worden war, hat in diesem Moment eine der gefährlichsten Prüfungen bestanden, die ein Na'vi bestehen kann. Nur eine Traumjagd ist noch gefährlicher. Sie hat nun eines dieser Tiere als Begleiter, der sie niemals wieder verlassen wird, bis einer der beiden irgendwann einmal zu Eywa geht.
Schnell laufe ich auf Neyri zu und dränge sie, zusammen mit ihrem Ikran zum Rand des Felsens: "Der erste Flug besiegelt das Band zwischen Euch.", rufe ich: "Tswayon! Set!" ("Flieg! Jetzt!").
Es folgt, was bisher jedem Na'vi widerfahren ist, der diese Prüfung ablegen muss. Das Zusammenspiel zwischen Neyris Nervensystem und dem Ihres Ikrans müssen sich erst aufeinander einstellen.


Ich schaue ihr nur kurz nach, dann treffen sich Sey'Syus und mein Blick und ich sehe in ihren Augen Stolz und Freude. Doch dann heißt es zurück ins Lager. Also rufen Sey'syu und ich unsere Ikrane und machen uns auf den Weg, um unsere Zeykoyu amip (neue Heilerin) zu feiern.
Als wir idort ankommen, steht beinahe der ganze Clan um Neyri herum. Jeder will der erste sein, der ihr zu ihrem Erfolg gratuliert und ich erinnere mich, dass es, als ich Ya'rrì, meinen zweiten Ikran, bekommen hatte, ebenso war und muss schmunzeln.

Einzig eine Sache geht mir nicht aus dem Kopf und ich werde mit Ne'wey darüber sprechen müssen. Sie hat, während ich Neyri den Tee kochen ließ, diesen nicht zu sich genommen, obgleich dies eine direkte Anordnung von mir war. Vertraut meine beste Freundin mir nicht mehr?  Jene Freundin, mit der ich viele Nächte gewacht habe, die mir viele Geschichten von ihrem Clan erzählte und die als Jägerin mein absulutes Vertrauen genießt, stellt mich als Tsahìk (spirituelle Clanführerin) in Frage?  Wieso hat sie mich so verletzt?

Doch ich beschieße, diese Frage mit ihr allein zu besprechen. Ich werde sie nicht dem ganzen Clan vorführen und sie nicht verurteilen, bevor ich keine Erklärung dafür von ihr habe...
Für den Augenblick verwerfe ich jedoch diese Gedanken, denn der Clan feiert Neyri, die Zeykoyu amip olo'ä Rey'engyayä (neue Heilerin des Rey'engya Clans) und möge Eywa, die große Mutter diese Feier nicht vor dem Morgengrauen enden lassen...







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