Donnerstag, 18. Mai 2023

Mipa 'iteti eywal molunge ne soaiya oeyä | Eywa brachte meiner Familie eine neue Tochter [2/2]

[Zurück zum 1. Teil]

Etwas umschlingt sanft meinen Körper. Es will mich nicht festhalten oder gar verletzen, es fühlt sich an, wie Haare, wie dünne Fasern oder wie Grashalme. Es erinnert mich sehr stark an meine meuniltaron (beiden Traumjagden), nur mit dem Unterschied, dass mich damals das Gras in meinen Träumen packte, in die Höhe riss und ich Angst bekam. Heute fühlt es sich an, wie ein Streicheln, als würde etwa Neyris Atem über meinen Körper streichen oder der sanfte Hauch des Windes. Ich empfinde etwas sehr schönes, etwas das mir sagen will, dass ich diesen Ort nie wieder verlassen soll.

Ari'lana tollt um mich, Kee'lanee (Seys verstorbene Frau), Nìm'wey (Ari'lanas Ziehmutter) herum und erst in diesem Moment sehe ich Winataron. Lebt er wirklich? Ich weiß nicht, was es ist, aber es scheint ein irgendwie besonderer Traum zu sein. Winataron nimmt Ari'lana auf seinen Arm und fragt sie: "Srake nga new tivaron fayoangit oehu, ma hì'ia taronyu?" ("Magst Du mit mir fischen, kleine Jägerin?"). "Sraaaaneeee..." kichert sie und klopft ihm mit ihren kleinen Fäusten auf die Brust: "Wina oeeehuuu tiyaaaaron... ("Wina und ich gehen fiiiischeeeen...") singt sie. Ich schaue mein Kind an und sage: "Bald wirst Du auch fischen gehen. Sempu (Papa) und ich werden Euch beide mit zum Wasserloch nehmen und Ari'lana wird Dir sicher zeigen, wie man mit einem Speer fischt." Wina schaut Maytame an, lächelt und sagt: "Und sempu (Vati) wird darauf achten, dass Ari'lana es Dir richtig beibringt." May strahlt ihn an, es muss wohl an seiner Stimme liegen, denn sehen wird sie ihn wohl kaum richtig können, dazu ist sie zu klein.

Lange habe ich seine Stimme nicht mehr gehört, ihn nicht gesehen. Auch wenn Neyri nun an meiner Seite lebt und ich sie liebe, läuft mir immer noch eine Gänsehaut über den Rücken, wenn ich seine tiefe, brummige und doch so sanfte Stimme höre. Er legt mir kurz einen Arm um die Taille. Auf dem anderen hält der Ari'lana und sagt zu mir: "Dann hast Du mal etwas Ruhe." Er geht mit der Kleinen in Richtung des Wasserlochs, an dem wir oft waren. Nìm'wey schaut mich an. Auch ihr kommt diese Pause sehr gelegen. Ari'lana kann auf Dauer schon anstrengend sein, weil sie immerzu toben, spielen, lachen und singen will. Irgendwann aber werden wir wieder mit ihr sprechen müssen, um ihr klar zu machen, dass es im Clan Regeln gibt, an die sich alle halten müssen und so auch sie.

Ich sehe Neyri mit ihrer Mutter Miori unweit von uns stehen. Die beiden tragen sehr ähnliche Gewänder und ich nicke ihnen respektvoll zu. Aber da ist noch jemand, dort hinter Miori. Erst, als Tsìlpey an ihr vorbei lugt erkenne sich Seys Tochter und rufe ihr zu: "Winataron geht mit Ari'lana fischen. Lauf schnell, bevor sie fort sind." Sie mag jedoch heute wohl nicht mit ihm gehen, obwohl an sich sie gern mit Ari'lana zusammen ist. Ich gehe zu Neyri und ihrer Mutter, übergebe Maytame an Miori und bitte sie: "Kannst Du sie kurz festhalten, ma sa'nu (Mutti)?" Sie ist wie eine Mutter für mich und sie tut es gerne und ich hole eine Schale mit Früchten, weil ich etwas Hunger habe.

Neyri schaut mich etwas vorwurfsvoll, nein beinahe eher fordernd an und ich weiß sofort, was ich falsch gemacht habe und korrigiere meinen unabsichtlichen Fehler gleich und bitte Miori: "Gib sie Neyri auch." Wie konnte ich Neyri übersehen? Maytame und Neyri sind schon immer unzertrennlich gewesen und Neyri ist immer glücklich, wenn sie Maytame auf diese Weise als Baby sehen und sie auch halten oder mit ihr spielen kann. Wenn Neyri für sie singt, gluckst sie, als wolle sie auch singen.

Die Bilder, Eindrücke und Gefühle werden blasser. Ich spüre, dass mich etwas von den Ahnen versucht, fortzuziehen. Obwohl ich mich dagegen wehre, kann ich es nicht verhindern und im nächsten Moment sehe ich, zunächst noch unscharf, Firaya und dann Neyri. Wo bin ich hier? Was ist geschehen? Nach und nach erkenne ich, dass ich auf Ari'lanas Grabstelle eingeschlafen bin. So etwas ist mir noch nie zuvor passiert. Es gefällt mir nicht, dass meine neue Tochter mich aufweckt, aber ich kann ihr dafür nicht böse sein, schließlich hatten wir ihr versprochen, mit ihr zum Baum der Seelen zu gehen, damit auch sie dort die Ahnen sehen und spüren kann.

Nachdem Neyri und ich uns mit dem Baum der Seelen verbunden haben, tut Firaya es uns gleich. Ob sie Angst davor hat? Ich weiß noch nicht, ob ihre Eltern dies oft mit ihr taten, aber ich erkläre ihr, dass es für uns sehr wichtig ist und wir daher auch hin und wieder herkommen, um an diesem Ort zu schlafen. Eywa zeigt uns heute viele Dinge. Das bemerken wir gleich, nachdem wir uns verbunden haben. Wir hören unzählige Gesänge und sehen viele andere, die zum Teil schon sehr lange bei der großen Mutter sind. Selbst ich muss mich erst ein wenig zurechtfinden und Neyri sicher auch.

Firaya ist etwas irritiert, denn diese vielen fremden Leute kennt sie nicht, woher auch? Aber ich bin froh, dass sie mit offenem Herzen und Geist auf sie zugeht. Dieses kleine Mädchen, sie hat ein großes und auch starkes Herz, einen wachen Geist. Ich bin stolz auf sie, sehr sogar. Obwohl Sahyì, ihre Mutter, uns nicht kannte, vertraute sie uns und dieses Vertrauen werde ich nicht zerstören und Neyri bestimmt auch nicht. Firayas Interesse gilt natürlich in erster Linie Ari'lana. Ich wette, sie will alles über jene Tage erfahren, als Ari'lana wieder fortgelaufen war bis zu jenem Tag, an dem sie ihre Furchtlosigkeit tötete. Sie wäre heute beinahe so alt wie May, eine heranwachsende Frau also. Ich frage mich, ob sie heute noch bei uns leben würde und wer sie ausgebildet hätte? Ich werde es leider nie erfahren...

Es ist ein wunderschöner Ort hier, an dem wir die Ahnen treffen. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, aber ich fühle mich wohl. Es ist ein Teil eines Waldes, den ein kleiner Bach durchläuft. Beinahe kommt es mir vor, als sei es eine Art Treffen der Ahnen. Ich sehe kleinere Gruppen, die miteinander reden. Einige Eltern spielen mit ihren Kindern, singen... Das sind die Momente, die ich in mich aufnehme, diese Gefühle der Geborgenheit, der Liebe und des Friedens. An keinem Ort sind diese Eindrücke so stark, wie hier und nie waren sie so stark, wie heute. Ist dies ein Zeichen?

Die Kinder spielen miteinander und sogar Ali'yara (Korlans verstorbene Tochter), die auch fast erwachsen ist, spielt mit den kleineren. Dann geschieht etwas, das mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird. Sayhì (Firayas Mutter) und ihr muntxatan (Ehemann) kommen zu unserer Gruppe. Ich bin sicher, nicht nur Firaya freut sich darüber, dass Eywa ihre Seelen in sich aufgenommen hat. Sayhì sieht ohne ihre Verletzungen sehr hübsch aus. Ihr Gewand zeigt Stärke, aber auch eine große Verbindung zu Eywa. Viele Farben deuten davon, dass gute Weber in dem Clan dieser Familie leben. Lange unterhalten wir uns, denn ich möchte ihr alles darüber erzählen, was bisher geschehen ist und ihr auch sagen, dass ihr Kind in den Clan der Rey'engya aufgenommen wurde.

Auch Neyri und andere unterhalten sich mit Firayas Eltern und ich erkenne, dass meine Entscheidung richtig war, dem Kind Uturu (Zuflucht) zu gewähren. Wir werden sie nicht enttäuschen, Firaya wird von Neyri und mir aufgezogen, als wäre sie unser eigenes Kind. Sayhì ist erfreut als sie hört, dass Neyri sich auch so lange schon ein Kind wünscht und sie sagt: "Ich vertraute sie Euch an, denn ich weiß, dass Ihr sie wie ein eigenes Kind behandeln werdet."  Auch Firayas sempul (Vater) scheint zu wissen, dass Neyri und ich diesem Kind eine neue Familie sein werden, die sie liebt und respektiert. All dies hatte Neyri einst nicht, weil ihr dies und noch so viel mehr von den sawtute (Himmelsmenschen) genommen wurde.

Ich kann nicht sagen, wie lange wir dort am Baum der Seelen hocken. Als wir unsere Verbindungen zu Eywa trennen, ist die Eclipse jedoch bereits fast vollendet und es wird jetzt sehr schnell dunkel. Wir können jedoch nicht gleich zum Boot gehen und heim fahren, denn Neyri geht es plötzlich nicht gut. Sie hat große Schmerzen im Unterleib und beschließt daher, sich alleine auf den Rückweg zu machen. Mir gefällt das nicht. Ich mag es nie, wenn sie so etwas tut, aber sie braucht das Alleinsein sehr oft, wenn bei ihr der weibliche Zyklus beginnt. Es würde nichts helfen, würde ich sie davon abhalten, alleine zurück zu gehen und so bete ich für sie und mache mich mich mit Firaya allein auf den Weg zum Boot.

Ich höre ein Geräusch und merke, dass Firaya etwas unruhig wird. Das Geräusch stammt von keinem Tier, von keinem Wasserfall, es ist das Brummen eines ikran lefngap (Hubschraubers). Sofort steuere ich das Boot ans Ufer. Ich kann und werde das Kind nicht über das offene Wasser direkt in die Arme der sawtute (Himmelsmenschen) steuern, nicht am Tage und erst recht nicht wenn es dunkel ist und jetzt ist es dunkel. Hastig tarne ich das Boot mit einigen Zweigen und Blättern, aber Firaya geht vor. Sie ist verletzt, weil sie vorhin einem Messerbaum nicht rechtzeitig ausweichen konnte und ich sie daher trage. Ihre Verletzungen bluten zwar, doch sie sind nicht ernst. Ich gab ihr gleich etwas gegen die Schmerzen und stoppte die Blutungen. Dann trug ich sie zum Boot.

Ich werde sie bis zum Kelutral (Heimatbaum) tragen und noch weiter, wenn es sein muss. Als jedoch dieses Geräusch näher kommt, läuft sie davon. Was hat sie? Wieso gehorcht sie mir nicht, als ich sie rufe? Ich eile ihr nach und als ich sie nur Momente später finde, erkenne ich das Mädchen beinahe nicht wieder. Ich will sie wieder auf meine Arme nehmen, doch die schlägt mit einem dicken Ast nach mir. Sie schimpft, sie flucht und dann erkenne ich den Grund dafür. Die sawtute (Himmelsmenschen)  kamen mit ihren Metallikranen und töteten ihre Eltern. Sie ist voller Hass und Wut und ich erkenne, dass sie mich auch gerade nicht als ihre neue Mutter sieht. Ich bin ein Feind, ein Alien, ich bin eine Gefahr für sie. Ich trage nur mein Messer bei mir, aber soll ich es benutzen? Soll ich sie verletzen? Das werde ich niemals tun. Eywa, schießt es mir durch den Kopf, wieso  wieder eine solche Prüfung und wieso jetzt?

Firaya ist mir körperlich unterlegen, aber soll ich Gewalt gegen sie anwenden? Ich will ihr eine gute Mutter sein und nicht ihr Feind. So ergreife ich den Ast, mit dem sie nach mir schlägt, und entreiße ihr ihn. Sie greift mich trotz ihrer Wunden mit bloßen Händen an, tritt und schlägt nach mir und sie faucht mich immer wieder an. Es tut mir sehr weh, was ich sehe. Was soll ich tun? Was kann ich tun? Ich will das nicht, aber ich muss mich entscheiden, denn sonst werden sie uns beide sicher töten. Die große Mutter hat mich erwählt, um Tsahìk (spirituelle Clanführerin) zu sein, doch ich wünschte, es wäre nie geschehen. Ich stehe vor einer Aufgabe, vor einer Entscheidung, die es mir schwer macht. Werde ich das Richtige tun? Werde ich einen sehr großen Fehler machen? Hilf mir, große Mutter...

So packe ich sie mit meinem langen Schweif. Auch wenn ich ihn oft hasse, weil er mich behindert, ist er mir jetzt eine große Hilfe. Ich schlinge ihn um das Mädchen und ihren rechten Arm und drücke zu. Für einen Moment ist sie verwundert und daher unaufmerksam und so greife ich ihr mit meiner Hand an ihre Kehle und drücke zu. Ich will ihr keinen Schmerz zufügen, aber es geht nicht anders. "Ftang nga!" ("Lass das sein!") fauche ich sie wütend an. Warum geschieht das gerade wieder? Es tut mir weh im Herzen. Mir kommen Erinnerungen an Neyri. Auch sie war einst manchmal so aggressiv mir gegenüber.

Ich halte Firaya fest, so lange es nötig ist. Wie lange das dauert, weiß ich nicht zu sagen. Ich weiß nur, dass das Geräusch plötzlich verstummt ist. Firaya verspricht dann endlich, sich nicht mehr zu wehren oder mich anzugreifen. Was ist nur los mit ihr? Als ich meinen Griff löse, ist sie nur einen Moment später wie ausgewechselt. Sie weint und es zerreißt mir das Herz. Ich wünschte, Neyri wäre jetzt hier oder jemand der anderen. Sie sitzt auf dem Boden vor mir, wie ein kleines Kind, dessen Lieblingsspielzeug verbrannt wurde. Jeder ihrer Tränen tut mir im Herzen sehr weh.

Obgleich innerlich wütend bin, zeige ich es dem Kind nicht und erkläre ihr, dass ich sie nun zum Kelutral (Heimatbaum) tragen werde. Das Mädchen ist, wie an dem Tag, als wir sie fanden. Sie hält sich an mir fest, wie jemand, der Angst hat und das hat sie auch. Ihre Wunden werden weh tun, vielleicht bluten sie auch wieder, ich kann es in der Dunkelheit nicht sehen. Meine Arme zittern und schmerzen bald und meine Beine wollen auch nur noch langsam gehen, aber ich zwinge mich, sie nach Hause zu bringen. Ich werde sie nicht alleine lassen, sie wegwerfen, wie eine alte Puppe. Ich werde sie dorthin zurück bringen, wo sie sicher ist, wo sie Geborgenheit findet, ich habe es versprochen.

Nachdem ich es endlich geschafft habe, lege ich sie zu Neyri auf unser Schlaflager. Neyri war wohl schneller als wir beide und das ist gut so. Sie wird sich, wenn es hell wird, um ihre Wunden kümmern, doch wie wird sie auf Firaya reagieren, die sicher immer noch Angst haben wird und durcheinander ist? Was wird sie sagen, wenn ich ihr erzähle, wie es in mir aussieht? Ich bekomme Angst, dass Neyri in Firaya viel von ihrer eigenen Vergangenheit wiedererkennen und auch wieder erleben wird. Beginnt nun ein neuer Kreislauf, den ich vor langer Zeit mit Neyri schon einmal erlebte? Beginnen sogar zwei Kreisläufe, weil in Neyri alte Erinnerungen und Gefühle erwachen?

Ma Eywa anawm ätxäle suyi ohe tsnì ngenga oet ke fmetok oeti fìfya nìmun.
(Große Eywa, ich bitte Dich respektvoll, mich nicht wieder auf eine solche Weise zu prüfen.)


    

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