Dienstag, 9. Mai 2023

Mipa 'iteti eywal molunge ne soaiya oeyä | Eywa brachte meiner Familie eine neue Tochter [1/2]

Der Tag beginnt, wie viele andere. Einige sind schon unterwegs, andere erwachen nach und nach. Der Clan lebt, spüre ich und es macht mich glücklich. Ich weiß, auch heute werde ich wieder etwas dazu lernen, werde mich um die kleinen und großen Belange des Clans kümmern und genau das ist es, das mein Leben, meinen Geist mit Energie erfüllt und das mein Herz schlagen lässt. Ich spüre, dass Neyri noch träumt, denn ich erlebe ihren Traum mit, hatten wir uns gestern miteinander verbunden und waren dann irgendwann eingeschlafen. Es ist immer wieder ein Erlebnis, sie zu spüren, jeden ihrer Herzschläge und jeden ihrer Atemzüge.

Mein erster Gedanke gilt natürlich meiner muntxate (Ehefrau). Sie erwacht gerade, als ich sie anschaue, aber da ist seit einiger Zeit noch jemand, der meine, unsere Aufmerksamkeit hat und sie auch bekommt: Firaya, das Mädchen, dem wir Uturu (Zuflucht) gewährten und sie in den Clan aufnahmen, weil ihre sterbende Mutter dies von uns erbat. Inzwischen mag ich sie. Obschon ich immer wieder Ähnlichkeiten zu Maytame (Kxìryas Tochter) sehe und es mir Sorgen bereitet, ja sogar manchmal etwas Angst macht, sie mit ihr zu vergleichen, hilft Neyri und auch die anderen mir dabei, dieses Kind nach und nach mit anderen Augen zu sehen, sie zu sehen, was sie ist: Ein Mädchen, das nicht nur Hilfe braucht, um den Verlust ihrer Mutter, Sayhì, und ihres Vaters zu verarbeiten. Auch ich denke immer noch daran, dass ich ihren Tod nicht habe verhindern können.

Inzwischen ist aber allen klar, Firaya kann nicht nur, sie wird bei uns bleiben. Jeder, der sie etwas näher kennt, spricht gut über sie. Sicher, sie ist manchmal etwas unsicher, aber sie ist noch fremd hier im Kelutral (Heimatbaum) und im Clan und sie ist noch sehr jung. Sie lernt einige erst nach und nach kennen und sie wird sich hier sicher noch länger fremd fühlen. Vielleicht mag sie auch nicht jeden oder wird nicht von jedem gemocht. Dies wird die Zeit zeigen. Seit der Zeremonie, bei der wir Sayhì (Firayas Mutter) begruben, ist jedoch sicher, sie bleibt bei uns und weder Sey, noch ich mussten irgendjemandem sagen, dass sie wie eine von uns zu behandeln ist gleich von wo sie kommt und wie sie denkt. Sie soll ein neues zu Hause bekommen, aufwachsen wie andere Kinder auch und sie soll Sicherheit und Geborgenheit bekommen.

Hatte ich mich noch vor Kurzem gefragt, ob Eywa sie zu uns geschickt hat, damit ich Mayteme nicht so sehr vermisse, glaube ich dies nun nicht mehr so ganz. Klar, ich kenne die Absichten der großen Mutter nicht und kann nur ihre Zeichen deuten, aber ich bin sicher, dass sie das Mädchen nur zu uns brachte, damit es überlebt und die Wege und die Art zu leben an unseren Clan weitergeben kann und wir alle werden gerne von ihr lernen und unsere Rituale, Lieder und Geschichten ebenso an sie weitergeben.

Neyri dreht sich zu mir und wie beinahe jeden Tag küssen wir uns. Über die Verbindung zu ihr nehme ich ihre Liebe in mich auf, spüre aber zugleich auch ihren Tatendrang. Wir hatten verabredet, mit Firaya einen Bogen für das Mädchen zu bauen und genau dies werden wir auch heute machen. Das Holz hatte das Mädchen gestern schon gesucht und sie war klug, denn sie hatte gleich mehrere Äste geholt. So kann einer kaputt gehen oder durch einen Fehler beschädigt werden. Manchmal spüre ich, dass sie an ihre sa'sem (Eltern) denkt und es tut mir weh im Herzen. Ich bin aber sicher, sie wird bald darüber hinweg sein, denn sie ist für ihr Alter sehr stark und sie schaut nach vorn.

Manchmal, so wie auch jetzt, fühle ich mich schon etwas ertappt. Neyri und ich küssen uns und genau in dem Moment erwacht Firaya. Sie schlief neben uns und dass sie dicht bei Neyri schlief zeigt mir, dass sie Nähe braucht. Ihre Stimme klingt, als wäre sie noch müde: "Trr lefpooooom, ma Neeeeyri Kxìryaaasì." ("Guten Mooooorgen, Neeeyri und Kxìryaaa."). Wir erwidern den Gruß und ich frage mich, ob sie es nicht komisch findet, dass Neyri und ich zusammen leben. Maytame kannte das, weil es bei den Rey'engya normal ist, was aber denkt Firaya darüber? Was fühlt sie? Offenbar stört sie es nicht, jedenfalls hat sie noch nichts dazu gesagt.

Am Ufer des Flusses zeigen wir ihr dann, wie sie den Stab schleifen muss, um daraus einen Bogen zu machen. Ihr Bogen soll natürlich keine giftigen Pfeile verschießen, sie soll zuerst damit üben, wie May früher oder Ali'yara. Neyri ist im Kelutral und will Pfeile für sie machen. Sie bat mich, es Firaya nicht zu verraten. Sie will das Mädchen überraschen und ihr damit auch zeigen, dass wir sie akzeptieren, dass sie eine von uns ist. Firaya macht ihre Arbeit wirklich gut. Sie hält sich an meine Ratschläge und Anordnungen und ich spüre, dass sie einen guten Bogen bauen will. Sicher, ihr fehlt noch Erfahrung, aber die wird sie bekommen und ich bin sicher, nicht nur ich denke so.

Wir sitzen am Ufer auf den Steinen und erzählen uns voneinander. Ohne darüber nachzudenken, erzähle ich ihr von Ari'lana (verstorbens Mädchen), dem Mädchen, das nicht lernte, den Wald zu respektieren, das keine Angst hatte und das ich dann über Tage hinweg suchte und sie dann, von Nantags (Natterwölfen) getötet, auffand. Firaya hört mir zu und mir kommt die Idee, Ari'lanas Grab zu besuchen, wenn der Bogen fertig ist. Ich war schon lange nicht mehr dort und es wäre auch eine gute Idee, Firaya dann den Baum der Seelen zu zeigen. 

Ein Ereignis, mit dem weder Firaya, noch ich gerechnet hätten, trifft mich wie ein Pfeil ins Herz, denn Neyri kommt mit den Pfeilen zurück und schlägt dem Mädchen vor, dass nicht nur sie, sondern auch ich die Stelle ihrer Eltern einnehmen könnten. Für einen Moment scheint vor Überraschung und Verwunderung mein Herz stehen zu bleiben. Bis zu diesem Moment war ich der festen Überzeugung, dass sie, Neyri, für Firaya die Rolle der neuen Sa'nu (Mama) übernehmen wollte, wenn dies auch Firayas Wille und Wunsch ist. Nun soll ich die zweite Rolle der Eltern übernehmen. Ich könnte Neyri einerseits umarmen, denn sicher, ganz sicher sogar wäre dies mein Wunsch. Ich mag dieses Mädchen viel mehr, als ich es offen zugebe, aber ich habe davor auch Angst, denn ich befürchte, dass ich dadurch noch öfter an Maytame denken werde. Auch wenn alle immer wieder sagen, dass ich sie zu Mutter geben musste, um sie zu schützen. Immer noch sind da Gedanken in mir, die mir sagen, dass ich eine schlechte Mutter bin, die ihre Tochter nicht zu beschützen vermag.

Wahrscheinlich sehen mir die Beiden meine Unsicherheit an, denn viele Fragen gehen mir in diesem Augenblick durch den Kopf. Schließlich aber höre ich auf mein Herz und willige ein. Selten habe ich eine solche Freude in den Augen eines Kindes gesehen, als Firaya meine Zustimmung hört und als ich sie liebevoll in meine Arme schließe spüre ich, dass ich mich nur selber getäuscht hätte, hätte ich diesen Vorschlag abgelehnt. Mein Herz beginnt zu rasen, als Firaya uns beide dann zum ersten mal Sa'nu (Mami) nennt. Es ist für ich beinahe wie damals, als ich Maytame geboren hatte und sie dann auf meinem Bauch lag, sodass ich mich zum ersten mal mit ihr verbinden konnte.

Firaya schleift fleißg ihren Bogen weiter und ich hole meinen Zeremoniebogen, denn nun muss ich zu den bereits vorhandenen geschnitzten Bilder von Winataron (Kxìryas verstorbener Mann), von Mutter und Mayteme und einigen anderen, mir wichtigen Personen um ein weiteres Bild ergänzen: Das Bild unser neuen Tochter Firaya.  Währenddessen erzählen wir ihr von dem alten Lager, von dem Angriff und fragen sie, ob sie sich stark genug fühlt, einen Teil unserer Vergangenheit anzuschauen. Soll ich sie ins alte, zerstörte Lager der Rey'engya hinein führen? Diese Frage beschäftigt mich dann eine Weile und ich  ich stelle sie Neyri, weil ich nicht weiß, ob es dem Mädchen Angst macht, diese Zerstörung anzusehen. Neyri hält dies für keine gute Idee und sie hat Recht. Es ist noch nicht lange her, als Firaya ihre Eltern verlor und wir kurz darauf noch zwei Angehörige ihres Clans fanden, die von den sawtute (Himmelsmenschen) getötet worden waren. So beschließen wir, Firaya den See zu zeigen, an dem wir einst lebten und das kleine Außenlager, das nicht weit von Ari'lanas Grab entfernt ist. Mein Vorschlag, mit dem Boot zu fahren gefällt Firaya. Neyri natürlich auch und so sieht das Mädchen einiges von dem Land, in den wir leben.

Wir durchfahren den heute im Nebel liegenden Sumpf und Firaya sieht wohl zum ersten Mal Fkio (Flamingos). Es ist schön zu sehen, wieviel Freude sie an selbst kleinen Ereignissen hat. Wir fahren am alten Lager der Maguyuk (Befreundeter Clan der Rey'engya) vorüber und Neyri erklärt ihr alles, was wir sehen. Sie beantwortet Firaya alle Fragen und nicht nur daran merke ich, dass für Neyri der Wunsch in Erfüllung geht, den sie schon sehr lange hegt und den ihr bisher niemand erfüllen konnte. Neyri hat Firaya sehr gerne und für sie ist das Kind wie ihr eigenes, auf das sie schon so lange wartet. Nun scheint es doch so, als hätte Eywa uns ein neues Kind in die Familie gebracht. Ich empfinde großes Glück und ja, ich empfinde auch Mutterliebe für das Mädchen, das von weit her kommt und dass schon so viel Leid ertragen musste in ihrem jungen Leben, das eben erst begonnen hat.

Firaya gefällt es mit dem Boot zu fahren und ich denke an May, wie sie zum ersten Mal unerlaubt das Boot ins Wasser schob und eigentlich nur darin sitzen wollte. Sie war neugierig. Das Segel jedoch war zu schwer und fiel ins Wasser, als sie es am Mast hoch ziehen wollte. Voller Schande und Reue berichtete sie mir und Sey davon und als wir ihr vergaben, klammerte sie sich an seinen Hals, um ihm zu danken und ich sah damals in Seys Augen Tränen. Ich wusste, er dachte in diesem Moment an Kee'lanee, seine Frau und seine eigene Tochter Tsìlpey, sein Kind, die ihn beide nie mehr umarmen werden können.

Der See am alten Lager gefällt Firaya, das spüre ich sofort. Auch das kleine Lager, das wohl inzwischen von einigen Fa'lì (Schreckenspferden) etwas verwüstet wurde, gefällt ihr und als Neyri sie auf den Rücken eines der Tiere setzt, kichert sie und Neyri zeigt ihr, wie man mit diesen Tieren umgeht. Das ist der Moment, an dem ich an Ari'lana denke und dass es eine gute Gelegenheit wäre, jetzt allein zu der Grabstelle zu gehen, um dort nach so langer Zeit wieder bei ihr zu sein. Neyri erahnt meine Frage bereits und ich lasse die beiden alleine und sehe in Neyri große Freude. So erzähle ich im Gras im sitzend Ari'lana von den neuen Ereignissen, erzähle ihr natürlich auch von Firaya, ihren Eltern und ich singe für sie.

Dann sehe ich sie, Ari'lana. Zuerst nur verschwommen, dann immer deutlicher. Ich höre sie lachen, weil sie wieder einen ihrer Späße gemacht hat. Sie läuft mit ihrem Kinderbogen umher und ich erlebe es wie früher. Oder ist es heute? Sie lacht und singt. Wie sehr vermisse ich dies? Es ist ein schönes Gefühl, sie zu erleben. Ich erkenne die Feuerstelle und es ist nicht unser Feuer im Kelutral (Heimatbaum), es ist jene Feuerstelle, an dem wir oft mit Txällän (Dallan) saßen, jenem tawtute (Himmelsmenschen), der für mich wie ein 'itan (Sohn) geworden war. Ist dies ein Traum?

Ari'lana schießt immer wieder die Pfeile ihres Kinderbogens zu uns und kichert, wenn sie uns trifft. Ich kann ihr einfach nicht böse sein. Wäre sie nur doch nicht immer so furchtlos und würde weglaufen. Wie oft haben wir sie gewarnt, sie gebeten achtsamer zu sein? Dann sehe ich, wie sie Maytame zum ersten mal auf ihren kleinen Armen trägt. May ist erst wenige Tage alt und Ari'lana ist sehr stolz, dass ich es erlaube. Sie verspricht mir, immer für May die große Schwester zu sein, will ihr das Jagen beibringen, ein Feuer anzünden und für sie zu singen. Hätten wir nur geahnt, was nur wenige Tage später geschieht, wir hätten es verhindert. Warum hat die große Mutter uns kein Zeichen gegeben? Warum hat sie ihr nicht geholfen? Es muss ein Traum sein, aber für mich ist es die Realität. Es ist schön, an diesem Ort zu sein und ich möchte ihn am liebsten nie wieder verlassen...

[Fortsetzung folgt...]

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