Schon früh bin ich heute wach, viel früher als alle anderen. Ich schleiche mich aus unserer Höhle heraus, denn ich will zu den Stimmenbäumen, denn die Sache mit Txavitx (David) beschäftigt mich sehr, zumal man mich bei einem Gespräch mit ihm nicht dabei haben wollte. Nicht nur er, sondern auch Sey, der olo'eyktan (Clanführer) sagten es nur allzu deutlich. Es kam mir sogar ein wenig recht, denn Maytame saß alleine am See, da ich sie zuvor fort geschickt hatte. Ich wollte nicht, dass sie es mitansehen muss, wenn zwei erwachsene sich über ein Thema streiten, das schon alleine Kinder nichts angeht. Es ging um den Tod derer, die verantwortlich für Neyris seelische Verletzungen waren.
Txavitx hat sie vor Seys und meinen Augen getötet. Dass dies bei ihm Spuren hinterlassen würde, war mir von vorne herein klar, aber es war sein Wunsch, dies zu tun.
Txavitx hat sie vor Seys und meinen Augen getötet. Dass dies bei ihm Spuren hinterlassen würde, war mir von vorne herein klar, aber es war sein Wunsch, dies zu tun.

Als ich die Verbindung zu dem Baum trenne stelle ich fest, dass es heller Tag ist. Wie lange war ich dort? Auf dem Weg zurück ins Lager nehme ich mir vor, Neyri anzusprechen. Statt mir am Abend zuvor eine klare Frage zu beantworten, suchte sie wieder nur einen Weg, dieser Auszuweichen. Ist es nur wieder ihre Art, vor manchen Problemen davon zu laufen? Es tat im Herzen sehr weh zu erkennen, dass alle meine Versuche, ihren Geist vielleicht doch noch vollständig heilen zu können, wohl von Misserfolg gekrönt waren und sind. Ich befürchte beinahe, dass sie sich in einigen Dingen niemals mehr ändern wird.
Etstu reicht mir etwas zum essen, aber ich habe nicht wirklich Hunger, esse aber dennoch die wenigen Happen. Neyri hat viel gelernt, stelle ich fest, als er erklärt, dass sie das Essen zubereitet hätte. Die beiden wollen wohl in den Wald hinaus, denn sie tragen Sammelkörbe. Mir ist es gleichgültig und so antworte ich auf die Frage, ob ich sie begleiten werde, etwas ausweichend. Offenbar, so ist in diesem Moment mein Gefühl, soll ich sie begleiten, um nicht alleine am Clanfeuer sitzen zu müssen. Noch am Abend zuvor gab man mir zu verstehen, dass ich nicht recht erwünscht sei, doch nun bittet man mich mitzukommen? Ich lehne es ab, denn ich will weder Mitleid für irgendetwas, noch will ich irgendwie bevorzugt werden.
Dann, urplötzlich ist es da. Etstu und Neyri sind gerade ein Stück weit aus dem Lager gegangen, als es mir durch den Kopf schießt: Zum ersten mal seit unserer Verbindung denke ich daran, Neyri weg zu schicken, fort aus dem Clan und aus meinem Leben. Noch nie zuvor hatte ich derartige Gedanken und ich spüre zugleich den Zwiespalt in mir. Ich liebe sie, sie ist meine Partnerin und wir sind vor Eywa vereint. Sie steht an meiner Seite und kümmert sich um die Kinder, um verletzte, sie lehrt Etstu und Surew Dinge, aber zugleich fühle ich, dass etwas falsch daran ist. Gehört sie wirklich noch zu mir? Diese Gedanken sind wie Stein in meinem Herzen und wie ich so darüber nachdenke, sehe ich die Antwort plötzlich klar vor mir.
Ich erkenne die Falle, in der ich mich offenbar schon seit so langer Zeit befinde, eine Falle, die nicht sichtbar ist, die man nicht zerstören kann, die man nicht einmal anfassen kann und dennoch ist sie da. Sie umschließt mich an jedem Ort, an dem ich bin. Ich bin glücklich, denn der Clan, meine Familie, unsere Freunde umgeben mich Tag für Tag. Es fehlt uns an nichts und Sey oder ich müssen nur einen Wunsch äußern und schon wird er uns erfüllt.
Dieser Falle muss ich entkommen und so entschließe ich mich den Clan, das Lager, meine gewohnte Umgebung und auch Neyri und die Kinder zu verlassen...
Oft sehe ich die Jäger, wenn sie von einer erfolgreichen Jagd heimkehren und ebenso oft wünsche ich mir jagen zu gehen, den Wald zu spüren und vielleicht auch dies ganz alleine tun zu können. Rasch packe ich meinen Bogen und einige Pfeile und rufe Ya'rrì, meinen Ikran.
Mir ist klar, dass vor allem Maytame, mein kleines Mädchen, auf die ich unendlich stolz bin, zurück lassen werde und mein Herz verbietet mir, dies zu tun, doch mein Verstand sagt etwas anderes und so nehme ich die kleine Holzpuppe, jene, die Sey'Syu mir schnitzte, als ich sehr traurig darüber war, May zu Mutter gebracht zu haben, denn so kann mein Kind bei mir sein. Sicher werde ich in der nächsten Zeit viele Momente erleben, in denen ich an sie denke.
Ich drehe eine weite Schleife über unser Lager und den See, dann überkommt mich ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr hatte. Ich fühle mich frei, wirklich frei. Ich gebe meinem Ikran das Kommando, zum Baum der Seelen zu fliegen. Von hier oben wirkt er noch größer, noch erhabener, als wenn ich vor ihm stehe.
Dann drehen wir ab, um nur sehr knapp über den flachen Wellen das Sumpfgebietes dahin zu jagen. Ich kann das Spiegelbild von Ya'rrì und mir in den Wellen unter uns sehen, ich spüre den Wind um uns herum, höre den großen Wasserfall, wie er pausenlos von den Bergen hinab prasselt und als wir sehr knapp unter der Brücke, welche zum Lager der Maguyuk (befreundeter Nachbarclan) führt, passieren, spüre ich etwas in mir, etwas, dass ich so intensiv sehr lange nicht mehr gespürt habe...

In der Ferne sehe ich diese riesige Behausung der sawtute (Himmelsmenschen). Es ist jener Ort, an dem Txavitx diese zwei Dämonen mit seiner Waffe getötet hat. Ich bin sicher, dass er sich von dieser Sache nie wieder erholen wird. Es waren Männer seines Volkes, es waren seine Brüder und doch tötete er sie, weil sie verantwortlich für das waren, was Neyri über ihre ganze Kindheit hinweg angetan wurde.


Als ich das Innere des Baumes betrete, spüre ich etwas. Es ist fast so, als wäre ich nicht alleine. Vielleicht werde ich hier Neyris Ahnen hören können und vielleicht erfahre ich mehr über diesen Clan und über Neyris Familie...
Da es bereits Nachmittag ist, bereite ich mich auf meine erste Nacht hier vor. Ich sammle Holz, um ein kleines Feuer zu machen und ich muss mir ein paar kleine Vorräte anlegen. Aus einer Pflanze schneide ich ein Stück heraus, um daraus etwas Mehl zu machen. Ich werde ein kleines Brot backen, dafür wird das kleine Feuer sicher ausreichen.
An einem kleinen Bach in der Nähe stille ich meinen Durst und den eines dort grasenden pa'lì (Schreckenspferdes). Es ist etwas scheu, lässt mich aber gewähren. Wann habe ich zum letzten Mal einem solchen Tier Wasser gegeben? Wann habe ich auf seinem Rücken gesessen, um irgendwohin zu reiten? Alle diese Fragen werde ich, so hoffe ich, in der nächsten Zeit beantworten können.
Als es dunkel wird, zünde ich eine Fackel am Feuer an, lege noch etwas Holz nach und ziehe mich ins Innere des Baumes zurück. Ich halte die Holzfigur in meinen Händen. Sie gleicht Maytame, als wäre es ihre Schwester. Sie wird in der nächsten Zeit dafür sorgen, dass ich Trost finde, wenn ich an mein Kind denke und ich ahne bereits jetzt, dass dies sehr, sehr häufig geschehen wird...
Nga yawne lu oer, ma 'eve oeyä (Ich liebe Dich, mein Mädchen)...
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