Samstag, 22. Juni 2019

Zene hivum | Ich muss weg



Schon früh bin ich heute wach, viel früher als alle anderen. Ich schleiche mich aus unserer Höhle heraus, denn ich will zu den Stimmenbäumen, denn die Sache mit Txavitx (David) beschäftigt mich sehr, zumal man mich bei einem Gespräch mit ihm nicht dabei haben wollte. Nicht nur er, sondern auch Sey, der olo'eyktan (Clanführer) sagten es nur allzu deutlich. Es kam mir sogar ein wenig recht, denn Maytame saß alleine am See, da ich sie zuvor fort geschickt hatte. Ich wollte nicht, dass sie es mitansehen muss, wenn zwei erwachsene sich über ein Thema streiten, das schon alleine Kinder nichts angeht. Es ging um den Tod derer, die verantwortlich für Neyris seelische Verletzungen waren.
Txavitx hat sie vor Seys und meinen Augen getötet. Dass dies bei ihm Spuren hinterlassen würde, war mir von vorne herein klar, aber es war sein Wunsch, dies zu tun.

Wäre ich alleine gewesen, hätte ich seinen Wunsch ausgeschlagen, bei der Tötung dieser Dämonen anwesend zu sein. Doch Sey wollte Txavitx diesen Respekt erweisen und so schloss ich mich seiner Entscheidung an, denn schließlich stehen wir beide für den Clan. Ich werde diese beiden Gesichter niemals vergessen. Ihre Blicke, ihr Verhalten, ihr abscheulicher Geruch, all das werde ich nie mehr vergessen.
Ich schleiche mich zum Lagerausgang und teile Tsetu mit, wohin ich gehen werde. Dann mache ich mich auf den Weg und erreiche schließlich kurz hinter dem See, der an unser Lager grenzt, den Ort den ich lange nicht mehr besucht habe. Erst jetzt fällt es mir auf, wie sehr mich manchmal die Aufgaben, die ich im Clan zu erfüllen habe, von vielen Dingen abhalten. Hier sind es Maytame und Ryatxì, die viele Fragen stellen, mit denen wir oft spielen und die versorgt sein wollen, dort sind es unsere Schüler oder die Belange des Clans, die mich oft sehr fordern. Oftmals vergesse ich darüber meine eigenen Wünsche, denn der Clan ist mir sehr wichtig.Ich muss nicht lange warten, als ich meinen Zopf mit einem der Bäume verbinde. Obwohl ich diesmal einen sehr versteckten Platz gewählt habe, um nicht gleich von jedem gesehen zu werden, der eventuell vorbei kommen könnte, fühle ich mich ertappt, als ich die Stimme meines Traumtieres höre. Er ist überheblich, wie immer. Längst habe ich mich an seinen Tonfall gewöhnt und doch ist heute etwas anders. Er weiß genau warum ich hier bin, doch anstatt mir einen Rat oder ein Zeichen zu geben, stellt er mir wieder nur jene Frage, die mich schon eine sehr lange Zeit beschäftigt: Was ist Zeit?


Als ich die Verbindung zu dem Baum trenne stelle ich fest, dass es heller Tag ist. Wie lange war ich dort? Auf dem Weg zurück ins Lager nehme ich mir vor, Neyri anzusprechen. Statt mir am Abend zuvor eine klare Frage zu beantworten, suchte sie wieder nur einen Weg, dieser Auszuweichen. Ist es nur wieder ihre Art, vor manchen Problemen davon zu laufen? Es tat im Herzen sehr weh zu erkennen, dass alle meine Versuche, ihren Geist vielleicht doch noch vollständig heilen zu können, wohl von Misserfolg gekrönt waren und sind. Ich befürchte beinahe, dass sie sich in einigen Dingen niemals mehr ändern wird.

Etstu reicht mir etwas zum essen, aber ich habe nicht wirklich Hunger, esse aber dennoch die wenigen Happen. Neyri hat viel gelernt, stelle ich fest, als er erklärt, dass sie das Essen zubereitet hätte. Die beiden wollen wohl in den Wald hinaus, denn sie tragen Sammelkörbe. Mir ist es gleichgültig und so antworte ich auf die Frage, ob ich sie begleiten werde, etwas ausweichend. Offenbar, so ist in diesem Moment mein Gefühl, soll ich sie begleiten, um nicht alleine am Clanfeuer sitzen zu müssen. Noch am Abend zuvor gab man mir zu verstehen, dass ich nicht recht erwünscht sei, doch nun bittet man mich mitzukommen?  Ich lehne es ab, denn ich will weder Mitleid für irgendetwas, noch will ich irgendwie bevorzugt werden.

Dann, urplötzlich ist es da. Etstu und Neyri sind gerade ein Stück weit aus dem Lager gegangen, als es mir durch den Kopf schießt: Zum ersten mal seit unserer Verbindung denke ich daran, Neyri weg zu schicken, fort aus dem Clan und aus meinem Leben. Noch nie zuvor hatte ich derartige Gedanken und ich spüre zugleich den Zwiespalt in mir. Ich liebe sie, sie ist meine Partnerin und wir sind vor Eywa vereint. Sie steht an meiner Seite und kümmert sich um die Kinder, um verletzte, sie lehrt Etstu und Surew Dinge, aber zugleich fühle ich, dass etwas falsch daran ist. Gehört sie wirklich noch zu mir?  Diese Gedanken sind wie Stein in meinem Herzen und wie ich so darüber nachdenke, sehe ich die Antwort plötzlich klar vor mir.

Ich erkenne die Falle, in der ich mich offenbar schon seit so langer Zeit befinde, eine Falle, die nicht sichtbar ist, die man nicht zerstören kann, die man nicht einmal anfassen kann und dennoch ist sie da. Sie umschließt mich an jedem Ort, an dem ich bin. Ich bin glücklich, denn der Clan, meine Familie, unsere Freunde umgeben mich Tag für Tag. Es fehlt uns an nichts und Sey oder ich müssen nur einen Wunsch äußern und schon wird er uns erfüllt.
Dieser Falle muss ich entkommen und so entschließe ich mich den Clan, das Lager, meine gewohnte Umgebung und auch Neyri und die Kinder zu verlassen...

Oft sehe ich die Jäger, wenn sie von einer erfolgreichen Jagd heimkehren und ebenso oft wünsche ich mir jagen zu gehen, den Wald zu spüren und vielleicht auch dies ganz alleine tun zu können. Rasch packe ich meinen Bogen und einige Pfeile und rufe Ya'rrì, meinen Ikran.
Mir ist klar, dass vor allem Maytame, mein kleines Mädchen, auf die ich unendlich stolz bin, zurück lassen werde und mein Herz verbietet mir, dies zu tun, doch mein Verstand sagt etwas anderes und so nehme ich die kleine Holzpuppe, jene, die Sey'Syu mir schnitzte, als ich sehr traurig darüber war, May zu Mutter gebracht zu haben, denn so kann mein Kind bei mir sein. Sicher werde ich in der nächsten Zeit viele Momente erleben, in denen ich an sie denke.

Ich drehe eine weite Schleife über unser Lager und den See, dann überkommt mich ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr hatte. Ich fühle mich frei, wirklich frei. Ich gebe meinem Ikran das Kommando, zum Baum der Seelen zu fliegen. Von hier oben wirkt er noch größer, noch erhabener, als wenn ich vor ihm stehe.
Dann drehen wir ab, um nur sehr knapp über den flachen Wellen das Sumpfgebietes dahin zu jagen. Ich kann das Spiegelbild von Ya'rrì und mir in den Wellen unter uns sehen, ich spüre den Wind um uns herum, höre den großen Wasserfall, wie er pausenlos von den Bergen hinab prasselt und als wir sehr knapp unter der Brücke, welche zum Lager der Maguyuk (befreundeter Nachbarclan) führt, passieren, spüre ich etwas in mir, etwas, dass ich so intensiv sehr lange nicht mehr gespürt habe...


Die Gedanken an den Clan, an Sey, Korlan, die beiden Kinder, an unsere Schüler und vor allem an Neyri sind dennoch allgegenwärtig und ich will sie auch gar nicht verdrängen, denn es ist mein Volk, die Rey'engya. Ich trage eine große Verantwortung, doch ich habe gelernt, sie zu akzeptieren und mein Leben danach auszurichten.
In der Ferne sehe ich diese riesige Behausung der sawtute (Himmelsmenschen). Es ist jener Ort, an dem Txavitx diese zwei Dämonen mit seiner Waffe getötet hat. Ich bin sicher, dass er sich von dieser Sache nie wieder erholen wird. Es waren Männer seines Volkes, es waren seine Brüder und doch tötete er sie, weil sie verantwortlich für das waren, was Neyri über ihre ganze Kindheit hinweg angetan wurde.
Wie lange ich nun unterwegs bin, weiß ich nicht und es spielt auch keine Rolle. Vor Ya'rrì und mir taucht jener Ort auf, an dem ich einst den Untergang eines ganzen Volkes hörte, als ich mich mit den Bäumen dort verband. Es war Neyris Volk, der Clan der Lukara, doch das wusste zu jener Zeit niemand von uns. Seither ist dieser Ort, dieser Baum etwas besonderes in meinem Leben geworden, denn es ist Neyris Heimatbaum. Als letzte überlebende ihres Clans ist es ihr Recht, dort zu leben, wenn sie es wünscht, es ist ihr Recht zu entscheiden, wer ihn betreten darf und wer nicht, doch es ist auch ein Ort vieler schlimmer Erinnerungen an jene Zeit, als die sawtute (Himmelsmenschen) sie von dort weg schleppten und ihre Eltern, ihre Freundin, ihr ganzes Volk auslöschten.
Ich lande dicht bei dem Heimatbaum der Lukara und schicke Ya'rrì gleich wieder fort, schaue ihm aber noch nach, bis er für meine Augen nicht mehr zu sehen ist. Ihn werde ich in nächster Zeit sicherlich nur selten brauchen. Hier an diesem Ort bin ich auf mich allein gestellt und es ist gut so. Hier wird mir niemand helfen können, sollte mir etwas geschehen, hier wird mir niemand Wasser holen, ein Feuer anzünden oder einen Fisch fangen. Ich bin frei...
Als ich das Innere des Baumes betrete, spüre ich etwas. Es ist fast so, als wäre ich nicht alleine. Vielleicht werde ich hier Neyris Ahnen hören können und vielleicht erfahre ich mehr über diesen Clan und über Neyris Familie...
Da es bereits Nachmittag ist, bereite ich mich auf meine erste Nacht hier vor. Ich sammle Holz, um ein kleines Feuer zu machen und ich muss mir ein paar kleine Vorräte anlegen. Aus einer Pflanze schneide ich ein Stück heraus, um daraus etwas Mehl zu machen. Ich werde ein kleines Brot backen, dafür wird das kleine Feuer sicher ausreichen.
An einem kleinen Bach in der Nähe stille ich meinen Durst und den eines dort grasenden pa'lì (Schreckenspferdes). Es ist etwas scheu, lässt mich aber gewähren. Wann habe ich zum letzten Mal einem solchen Tier Wasser gegeben?  Wann habe ich auf seinem Rücken gesessen, um irgendwohin zu reiten?  Alle diese Fragen werde ich, so hoffe ich, in der nächsten Zeit beantworten können.

Als es dunkel wird, zünde ich eine Fackel am Feuer an, lege noch etwas Holz nach und ziehe mich ins Innere des Baumes zurück. Ich halte die Holzfigur in meinen Händen. Sie gleicht Maytame, als wäre es ihre Schwester. Sie wird in der nächsten Zeit dafür sorgen, dass ich Trost finde, wenn ich an mein Kind denke und ich ahne bereits jetzt, dass dies sehr, sehr häufig geschehen wird...

Nga yawne lu oer, ma 'eve oeyä (Ich liebe Dich, mein Mädchen)...

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