Sonntag, 1. Dezember 2019

Korlan tätxaw - Hapxì a'awve | Korlan kehrt zurück - Teil 1

Ein Tag neigt sich dem Ende und es war ein schöner Tag, den wir bei den ayutral aymokriä (Stimmenbäumen) ausklingen lassen wollten. Seit Ryatxì hier erfahren hat, dass seine Eltern nun bei Eywa sind, hat er sich verändert. Er macht uns Vorwürfe, dass wir ihn und seine Gefühle, seine Gedanken, Wünsche und Träume nicht verstehen würden und je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr komme ich zu der Erkenntnis, dass er Recht hat. Ich werde mit Neyri sprechen müssen, denn wir müssen uns einfach mehr Zeit für den Jungen nehmen.

Er und Maytame sind größer geworden und so ändern sich auch ihre Sorgen und Wünsche innerhalb des Clans. May hat Neyri als ihre Lehrerin gewählt und ich bin froh darüber, denn Neyris Geist wird, davon bin ich überzeugt, dadurch gestärkt werden. Sie bekommt eine verantwortungsvolle Aufgabe und wird May all jene Dinge lehren, die ein Heiler wissen muss. Auch May wird spüren, dass ihre Ausbildung mit mehr Verantwortung verbunden ist, aber ich bin sicher, sie wird sich viel Mühe geben, Neyri nicht zu enttäuschen.

Als wir an diesem Abend die ayutral aymokriä (Stimmenbäume) erreichen, ahnen wir noch nicht, dass sehr bald Dinge geschehen werden, die niemand voraus ahnen kann. Etstu, Maytame, Ryatxì, Neyri und ich erreichen die Bäume, doch schon bald ruft sie nach ihrem Ikran (Banshee) und ich frage mich, was sie gerade vor hat?  Sicher, sie sprach davon, zusammen mit Maytame zum Lager der Maguyuk (befreundeter Clan) zu fliegen, um dort einige Dinge, auch Dinge über die sawtute (Himmelsmenschen) herauszufinden und sie wollte gemeinsam mit May dorthin fliegen. Dass sie aber ihren Ikran (Banshee) ruft, nachdem die Nacht angebrochen ist, um mit unserem Kind dorthin zu fliegen frage ich mich, ob sie darüber nachgedacht hat?

Um einem Streit aus dem Wege zu gehen und am Morgen mit den beiden darüber zu sprechen, aber auch, weil es sehr gefährlich ist, Nachts zu fliegen, verbiete ich ihr, unsere Tochter mitzunehmen und hoffe, dass auch sie sich noch anders entscheidet. Neyri beschließt jedoch dennoch zu fliegen und fragt mich, ob ich Ihr nicht mehr vertrauen würde?  Sicher vertraue ich ihr, jedoch nicht in dieser Situation, denn ich bin sicher, dass sie sich gerade von ihrem Wunsch, mit May zu fliegen, beeinflussen lässt und dass sie daher blind für die Gefahren ist, die ein solcher Flug mit sich bringen kann.

So verbiete ich ihr, mit Maytame zu fliegen und hoffe, dass sie durch diese Entscheidung noch einmal darüber nachdenkt. Neyri jedoch tut etwas, das mich traurig und May sehr traurig und zugleich wütend macht, denn sie verstößt ihre numeyu (Schülerin), indem sie sagt: "Wenn Kxìrya mir nicht vertraut, kann und werde ich nicht länger Deine Leherin sein können."
Als ich Neyris Worte noch in meinem Kopf nachhallen höre, fliegt sie auch schon davon. Meinen Ruf, dass sie zurück kommen soll, scheint sie nicht gehört zu haben oder aber sie hat ihn ignoriert.

Neyri ahnt vermutlich nicht, was sie Maytame gerade angetan hat, denn das Mädchen liebt sie ebenso wie mich und noch weniger wird sie darüber nachdenken, dass May und ich in dieser Nacht kaum an Schlaf denken können, denn ich habe alle Mühe, mein Mädchen zu trösten. Für sie fühlt es sich an, als hätte Neyri sie wie einen Stein weggeworfen, sie verstoßen, ihr Herz mit Worten durchbohrt, wie es ein Speer nicht schlimmer tun könnte.  Aber warum tut sie es?

Maytame weint bitterlich, als wir zurück in unserem Lager sind, und sie ist wütend, sehr wütend. Ich kann sie verstehen. Lange Zeit musste sie ohne sempul (Vater) leben und das machte es wahrlich schwer, nicht nur für sie, sondern auch für mich. Ich habe jedoch immer versucht, sie dies nicht spüren zu lassen. Dann trat Neyri an Winatarons (Kxìryas verstorbener Mann) Stelle und auch, wenn es anfangs schwierig war, lernten wir drei und auch der Junge, mit dieser neuen Situation umzugehen und damit zu leben. Wir alle, auch ich, mussten vieles dazu lernen, wir mussten Probleme und Fragen anders stellen und sie auch anders lösen und ich bin stolz darauf, dass wir es geschafft haben, eine neue Familie zu werden. Doch ich begreife mehr und mehr, dass sich Neyri wohl niemals ändern wird. Es wird immer Situationen geben, in denen sie anderen ungewollt sehr weh tut, sie verletzt und von sich stößt. Sie wird niemals lernen, in bestimmten Situationen einen Gedanken nochmals zu überdenken, um dadurch vielleicht eine folgenschwere Entscheidung zu verhindern. Immer wird es Situationen geben in denen sie nur für sich entscheidet, ohne an mögliche Folgen zu denken.

Natürlich bekommt Ryatxì es mit, dass mit Maytame etwas nicht stimmt und als er erfährt, was geschehen ist, wundert es mich nicht, dass auch er wütend und gekränkt ist. Auch er fühlt sich in gewisser Weise von Neyri verstoßen, aber was soll ich tun? Was kann ich tun?  Neyri hat mir wieder einmal gezeigt, dass alle bisherigen Versuche, ihren Geist zu heilen, nicht erfolgreich waren. SO komme ich mit schwerem Herzen nun zu der Einsicht, dass ich Neyris Geist vermutlich niemals werde heilen können. Wird daran unsere Familie einmal zerbrechen?  Wird daran vielleicht sogar einmal der Clan zerbrechen?  Wäre es klug mit den Kindern für eine Weile irgendwo hin zu gehen, wo Neyri uns nicht vermutet?  Wer aber versorgt dann die kranken?  Etstus Bein, das nun bereits sehr lange verwundet ist, macht mir Sorgen, aber er scheint mir nicht zu vertrauen. Neyri ist nun fort. Was wird er nun tun?

Die Tage vergehen und wir haben immer noch keine neuen Nachrichten, wo Neyri genau ist, wie es ihr geht oder ob etwas geschehen ist. May weint fast jeden Tag und auch dem Jungen sieht man deutlich an, dass er es schwer hat, Neyris Entscheidung zu begreifen. Wie sollte er das auch, denn nicht einmal ich verstehe es. Die beiden Kinder scheinen mir aus dem Weg gehen zu wollen und auch das tut mir weh, wenngleich ich es auch verstehe und so gebe ich ihnen das, was wohl ihrer Meinung nach gerade das beste ist. Natürlich passe ich auf sie auf, denn ich trage die Verantwortung für sie, aber ich bemühe mich, dass sie es nicht bemerken.

Auch Tsetu hat, so oft ich ihn auch frage, keine neuen Hinweise und ich weiß, dass er der erste wäre, der mir etwas neues über Neyri erzählen würde. Ich weiß, dass er Gefallen an ihr gefunden hat. Ich weiß aber auch, dass die Verbindung zwischen Neyri und mir respektiert und dass er niemals Dinge tun wird, die er vielleicht täte, wären wir dies nicht. Ein wenig bemitleide ich ihn, denn Neyri und er wären sicher eine gute Verbindung, auch für den Clan und vielleicht würde er mit Neyri auch anders umgehen, wie ich und die Kinder es tun.

Nun sitze ich am See und schaue in die Nacht hinaus. Beide Kinder schlafen bereits und nur Tsetu ist ein Stück weit hinter mir am Torbogen. Ich fühle mich sicher, denn er würde mich jederzeit vor Gefahren warnen oder mir zur Hilfe kommen. So denke ich lange nach. Was werde ich Neyri sagen, wenn sie wieder kommt?  Was soll ich ihr sagen?  Wie soll ich mich verhalten, sollten die Kinder Neyri fort schicken wollen?  Meine Gefühle sind durcheinander, denn ich würde Neyri am liebsten einen Pfeil in ihr Herz schießen, sie aber zugleich auch umarmen, weil ich weiß, dass ich froh sein werde, wenn sie wieder hier ist.

[Teil 2 folgt...]

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