Sonntag, 15. März 2020

Tsam - Hapxì a'awve | Krieg - Teil 1

Etwas in mir hat sich verändert. Seitdem Korlan, Surew und ich vor einiger Zeit einen Tawtute (Himmelsmenschen) töten mussten, seitdem wir wieder einmal sinnlos viel Blut vergießen mussten, fühle ich mich ratlos und schwach. Oft liege ich in der Nacht wach, starre die Höhlenwände an und, während um mich herum alle schlafen, spüre ich zugleich Wut und eine große Traurigkeit in mir.
Oft ist es Neyri, die mir in solchen Momenten Halt gibt, indem sie mich umarmt und einfach nur da ist. Ebenso Maytame (Kxìryas Tochter). Jedes Mal stelle ich Neyri dieselben Fragen und erhalte von ihr die gleichen Antworten. Sie versucht mir Mut zu machen, versucht mich aufzumuntern und mir die schönen Dinge in Erinnerung zu rufen. Doch oftmals gelingt es ihr nicht, denn sie sucht ebenso Halt und Zuwendung bei mir. Wie lange wird - wie lange kann es noch so weitergehen?


Maytame und Ryatxì, unsere Kinder, sind oft wütend und traurig darüber, dass Sey und ich dem Clan verboten haben, alleine in den Wald hinaus zu gehen, seit die fremden Krieger immer wieder in der Nähe unseres Lagers sind. Wir entschieden, dass immer nur wenigstens zwei gemeinsam gehen dürfen, um sich gegenseitig zu beschützen. Seitdem wir immer wieder Metallikrane in der Nähe unseres Lagers hören und auch sehen, entschieden wir, dass es besser ist, wenn die Jäger, Schüler und Lehrer zu dritt hinaus gehen. So können sich die einen auf ihre Aufgabe konzentrieren und sie wissen, dass da jemand ist, der sie beschützt.

Oft frage ich mich, was wäre, wenn die Sawtute (Himmelsmenschen) niemals hier aufgetaucht wären? Der Clan könnte seinen Aufgaben nachgehen. Wir würden nicht in ständiger Angst leben und hoffen, dass sie uns nicht ständig beobachten. Und wir wüssten, dass nur der Wald, und vielleicht andere Clans, die weit entfernt von uns leben, unsere Feinde sind. Aber es sind berechenbare Feinde. Wir kennen den Wald. Wir wissen um seine Gefahren, kennen sehr viele Tiere und Pflanzen und wissen, wie wir uns vor ihnen schützen können. Die Sawtute (Himmelsmenschen) jedoch sind unberechenbar. Sie sind hinterlistig, sie kämpfen mit Waffen, die uns aus großer Entfernung vernichten können. Sie sind feige und keine tapferen Krieger, die Auge in Auge gegen ihren Feind antreten.

Tag für Tag spüre ich, dass der Clan darunter leidet. Sicher, sie beobachten, sie machen Pläne und sie kämpfen. Doch wofür das alles?  Wir verteidigen uns, unser Land, unser Lager. Dinge, die wir nicht verteidigen müssen, außer gegen den Wald, mit dem wir eins sind und den wir lesen und verstehen können. Kaum noch gehen unsere Jäger zur Jagd und wir sammeln nur noch in der Nähe unseres Lagers Kräuter, Beeren und andere Dinge. Und wir tun es aus Angst.

Die Kinder sind böse auf Sey und auf mich, weil wir ihnen verboten, das Lager alleine zu verlassen und nur noch mit zwei Begleitern hinaus zu gehen. May ist sehr traurig und auch böse und sie hat Recht wenn sie sagt, dass ihre Ausbildung nicht vernünftig fortgesetzt werden kann. Was soll ich tun? Was kann ich tun? Ich, wir, müssen sie doch beschützen.

Heute ist Neyri ausnahmsweise nicht im Lager. Ich erlaubte ihr, alleine hinaus zu gehen, denn wir brauchen dringend neue Heilpflanzen und andere Dinge, die nicht um unser Lager herum im Wald wachsen. Da Sey, Korlan und die anderen die Sawtute (Himmelsmenschen) beobachten werden, bleibt mir keine andere Möglichkeit, denn einer muss im Lager zurück bleiben, um auf die Kinder aufzupassen, mit ihnen zu spielen und um sie ein wenig von dem herannahenden Krieg abzulenken. Die beiden leiden noch an den Nachwirkungen, weil sie Beeren aßen, die nicht mehr gut waren. So war ich gezwungen, ihnen die Mägen zu entleeren, was den beiden natürlich gar nicht gefiel. Aber es musste sein, denn ich wollte, ich musste verhindern, dass sie sich daran vergiften.

So sitze ich nun mit ihnen am Feuer. Ich habe Tee gekocht, der ihnen gut tun und sie etwas stärken wird. Dann aber hören wir plötzlich Geräusche. Es sind die Metallflügel der Metallikrane und sie kommen rasch näher. Um die beiden zu schützen, zerre ich sie in unsere Höhle. Es tut mir weh im Herzen, aber mir bleibt einfach keine Zeit. Ich befehle den beiden, die Höhle nicht zu verlassen, bis ich oder Sey zurück sein werden. Und ich erkläre, dass ich den Metallikran angreifen werde. Natürlich weiß ich, dass ich alleine nicht viel ausrichten kann, aber ich muss es versuchen. So rufe ich Ya'rrì (Kxìryas Ikran) und bewaffne mich mit Giftpfeilen. Nun wird sich zeigen, ob mein neuer Bogen so schießen wird, wie ich es mir gedacht hatte.

Ya'rrì ist zuverlässig, wie immer und ich schwinge mich auf seinen Rücken. Kurz darauf erkenne ich den Metallikran, der bereits dicht über unserem Lager schwebt. Meine einzige Sorge gilt den Kindern. Sie sind allein dort unten und sollten die sawtute (Himmelsmenschen) ins Lager eindringen, sind sie diesen schutzlos ausgeliefert. Dies würde ihren sicheren Tod bedeuten, einen sinnlosen Tod. So jage ich dem Metallikran hinterher. Sicher werden sie mich längst bemerkt haben und kaum, dass ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, greifen sie mich mit einem ihrer Feuerpfeile an. Sie scheinen jedoch nicht zu wissen, wer da gegen sie kämpft oder sie halten mich für einen skxawng (Idioten). Sicher kenne ich die Gefahren, die von den Metallikranen ausgehen und so weiche ich dem Feuerpfeil aus und schieße auf den Metallikran. Mein Pfeil prallt jedoch von diesem ab.

Dann erkenne ich aber, dass wohl außer mir noch jemand auf ihn geschossen haben muss, denn die Metallflügel auf der rechten Seite beginnen zu brennen. Instinktiv schieße ich auf den linken Flügel und mein Pfeil trifft. Brennend stürzt der Metallikran nahe des Lagers im Wald zu Boden und ich lande meinen Ikran, um den Tawtute (Himmelsmenschen), der diesen fliegt, zu suchen. Sollte er noch leben, soll mein Gesicht das Letzte sein, das er sehen wird, bevor ich ihn töten werde. Wieder denke ich an May und Ryatxì. Die beiden müssen sehr verängstigt sein und ich hoffe inständig, dass sie die Höhle nicht verlassen werden. Möge Eywa sie beschützen.

Es dauert nicht lange und ich sehe Feuerschein und viel Rauch im Wald. Dort muss es sein. Ich bewege mich vorsichtig und schleichend vorwärts, denn der Rauch behindert meine Sicht und ich kann auch nicht wittern, da der beißende Geruch alles andere überdeckt. Aber ich habe meine Ohren und ich kenne den Wald hier genau. So dauert es nicht lange, bis ich spüre, dass sich etwas bewegt. Da ich hier meinen Bogen nicht einsetzen kann, weil ich kaum etwas sehe, ziehe ich mein Messer. Mehr tastend bewege ich mich vorwärts, auf alles gefasst.

Plötzlich steht er dann völlig unerwartet vor mir. Es ist ein kleiner Tawtute (Himmelsmensch), dessen Kleidung teilweise verbrannt aussieht. Er humpelt ein wenig und, als er mich sieht, scheint er mich angreifen zu wollen. Den winzigen Vorteil der Überraschung habe ich dennoch auf meiner Seite, denn er hatte mit mir ebenso wenig gerechnet, wie ich mit ihm. Nur ich wusste, dass er dort irgendwo sein musste. Mein erster Schlag gilt daher seiner Atemmaske. Unter dem Hieb meines Messergriffs zerplatzt sie und ich höre, wie er nach Atem ringt. Nun weiß ich, er wird nicht mehr lange leben, denn ohne diese Maske ist er nicht mehr kampffähig.

Für einen winzigen Moment scheine ich jedoch unaufmerksam zu sein, oder ich übersehe irgendetwas, denn ich spüre einen stechenden Schmerz in meiner rechten Hüfte. Womit hat er mich angegriffen? Ich hörte keinen Schuss. Doch ich habe nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn ich spüre, dass ich sehr stark blute. Nach meiner Hüfte tastend stelle ich fest, dass bereits sehr viel Blut den Waldboden tränkt. Ich bekomme noch mit, dass es Surew war, der den Metallikran offenbar zusammen mit mir angegriffen haben muss, denn ich erkenne ihn und sehe, wie er auf den feigen Tawtute (Himmelsmenschen) los geht, und ihm sein Messer mitten ins Herz rammt.

Ich falle zu Boden. Schmerz erfüllt meinen Körper, doch ich schreie nicht, denn er soll nicht triumphieren. Mein Herz schlägt immer schneller und ich spüre, dass es mir immer schwerer fällt, wach zu bleiben. Ich weiß, ich verliere sehr schnell sehr viel Blut und so ergreife ich die einzige Möglichkeit, die mir bleibt. Ich zwinge meinen Körper zur Ruhe, atme nur sehr flach und ich konzentriere mich sehr darauf. Nur so kann es mir gelingen, weniger Blut zu verlieren.

Jemand scheint mich zu tragen, spüre ich. Ist es Korlan? Ist es Sey? Ist es jemand anderes? Ich weiß es nicht und ich wehre mich nicht dagegen. Wenn sie mich ins Lager bringen, wird Neyri sich um mich kümmern. Sollte ich von den Sawtute (Himmelsmenschen), wohin auch immer, getragen werden weiß ich, ich werde nie wieder ins Lager zurück kehren. Selbst wenn sie mir helfen wollen, werde ich es nicht zulassen. Es ist Krieg und ich werde meinem Feind niemals erlauben, mir zu helfen. In Gedanken bete ich für die Kinder, für Neyri und den Clan. Sie sollen mich so in Erinnerung behalten, wie sie mich kennen. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod. Eywa wird meine Seele in sich aufnehmen.

In meinen Gedanken sehe ich wieder die Kinder. Sie sind allein, niemand beschützt sie. Es fällt mir immer schwerer, mich zu konzentrieren. Blut läuft an meinem Körper hinab, viel Blut. Und es läuft viel zu schnell. Ob ein Tag vergangen ist, oder zwei, weiß ich nicht, als ich spüre, dass mein Körper irgendwo abgelegt wird. Erst als ich vertraute Stimmen höre weiß ich, dass mich jemand ins Lager zurück gebracht haben muss. Ich versuche zu sprechen, aber ich weiß nicht, ob meine Worte laut genug sind, um gehört zu werden.

Dann höre ich Maytames weinende, besorgte Stimme. Der Schmerz in meinem Herzen ist größer, als der an meiner Hüfte. Sey und Korlan, Surew und alle anderen scheinen hier zu sein, denn ich kann sie hören und ich verstehe, was sie sagen, aber hören sie auch mich? Verstehen sie, was Ich ihnen sage? Ich weiß es nicht. Mein Körper wird immer schwächer, spüre ich, und ich weiß nicht, wie lange ich noch wach bleiben kann. Sie reden und jemand gibt mir schließlich etwas zum Trinken. Dann jedoch ist meine Konzentration am Ende und meine Kräfte verlassen mich. Ein letzter Gedanke gilt den Kindern. Vergesst mich nicht.

Ich muss geschlafen haben, denn ich weiß nicht, wo ich bin und wer bei mir ist. Ich spüre nur etwas nasses an meinem Körper. Jemand muss mir einen Verband angelegt haben, so zumindest fühlt es sich an. Erst als ich Neyris Stimme höre, nehme ich all meine Kraft zusammen und versuche ihr etwas zu sagen. Sie muss den Clan verlassen, sie muss Hilfe holen und ich hoffe, sie wird wissen, was sie tun muss und wohin sie gehen muss, um diese Hilfe zu bekommen. Ob sie meine Worte verstehen kann, weiß nur Eywa, aber ich spüre, dass sie meinen Arm streichelt. Ich liebe sie.

Dann bin ich wieder alleine. Unter meinem Körper spüre ich etwas kühles, nasses. Es wird mein eigenes Blut sein, denke ich. Wie lange werde ich dies noch durchstehen können? Wie lange werde ich dagegen noch ankämpfen können? In meinen Gedanken sehe ich Ryatxì und Maytame vor mir. Sie lächeln. Ich liebe Euch...

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