Mittwoch, 18. März 2020

Tsam - Hapxì amuve | Krieg - Teil 2



Ich höre Stimmen, kann sie aber im ersten Augenblick nicht zuordnen. Es ist, als wären sie sehr weit entfernt von mir. Dann wird mir klar, dass ich wohl eingeschlafen sein muss. Ich weiß, dass ich nicht schlafen sollte, denn es könnte ein Schlaf ohne Erwachen sein. Doch mein Herz schlägt noch, ich spüre aber, dass ich mit jedem Schlag immer noch Blut verliere. Wieder konzentriere ich mich, um mein Herz langsamer schlagen zu lassen. Neyri braucht Zeit, denn ich schickte sie zum Clan der Wassernebel, jenem Clan, den wir vor langer Zeit besuchten. Tse'law, die Tsahìk (spirituelle Clanführerin) des Clans ist die einzige, die mir einfiel, die helfen könnte, meine Wunde zu versorgen. Doch war meine Entscheidung richtig?  Ist diese Aufgabe vielleicht zu schwierig für Neyri oder ist sie gar unlösbar?  Ich wünsche mir, dass Neyri mich jetzt einfach nur festhält, während ich sterbe. Ich vermisse Dich.


Die Stimmen scheinen näher zu kommen und ich höre Surew etwas sagen. Korlan kümmert sich um Ryatxì und Maytame. Sie sind besorgt, fürchten sich vor der Ungewissheit, ob mir jemand helfen kann. Er beruhigt sie, tröstet sie, er ist für sie da, während sie sich unaufhörlich um mich sorgen. May ist sehr still. Mein kleines Mädchen hat Angst, ich weiß es, doch sie versucht schließlich meinen Verband zu lösen, der an vielen Stellen an meines Beines festklebt. Meine Gedanken sind bei Ihr. Wie gerne würde ich ihr und auch dem Jungen sagen: "Eurer sa'nu geht es gut, sorgt Euch nicht.", doch es wäre nicht die Wahrheit, denn ich weiß nicht, wann mein Herz aufhören wird zu schlagen.

Ich versuche zu sprechen, denn ich habe Durst, doch kein Laut kommt über meine Lippen. Jemand aber muss es ahnen, denn ich spüre, dass Korlan meinen Kopf in seinen Arm legt, um ihn anzuheben. Es kostet mich Kraft, meinen Mund wenigstens so weit zu öffnen, dass jemand etwas Wasser hinein gießen kann Dann spüre ich Wasser auf meinen Lippen, doch es läuft mir am Gesicht hinunter. Immerhin ein paar Tropfen kann ich trinken und ich genieße diesen kurzen Moment. Dann höre ich May sagen: "Ma sa'nu, nga zene niväk payti. Nga zene..." (Mami, Du musst Wasser trinken. Du musst...).  Es sind wieder nur wenige Tropfen, aber das Wasser tut gut.

Mein Körper wird mit jedem Atemzug schwächer und ich warte auf Neyris Rückkehr. Wo bleibt sie nur so lange?  Auch die anderen werden unruhiger, denn auch sie stellen sich wohl alle die selbe Frage, doch niemand spricht sie aus. Wieder zwinge ich mich zur Ruhe. Alte Erinnerungen, Gedanken an längst vergangene Geschehnisse formen sich in meinem Kopf zu Bildern. Ali'yara, meine erste Schülerin. Ich sehe sie stolz auf ihrem Ikran, aber ich weiß, sie ist bei Eywa. Ich höre Winatarons (Kxìryas verstorbener Mann) tiefe, aber dennoch so sanfte Stimme. Dann höre ich den Schrei eines prrnen (Babys). Es ist der Schrei Maytames, als ich ihr das Leben schenkte. Ich sehe Seys (Clanführer) Gesicht. Er weint, aber es sind Tränen der Freude und des Stolzes, als er mein kleines Mädchen in seinen Armen hält und nun sitzt dieses Mädchen ratlos und voller Sorge neben mir, um mir beim Sterben zuzusehen und zu erkennen, dass es nichts gibt, mit dem sie helfen könnte, die Blutung in meinem Bein zu stoppen.

Ist es nur Einbildung?  Schwinden nun meine Sinne?  Draußen, vom Kampfplatz her, höre ich Geräusche und ich erkenne diese Geräusche so sicher, wie ich meinen schwachen Herzschlag spüre. Neyri muss zurück sein. Ich höre, wie Surew die Höhle verlässt. Er humpelt und stützt sich sicher wieder auf seinen Bogen. Er wird wohl nie lernen, dass man niemals einen Bogen als Stütze benutzen sollte. Ohne, dass ich es beeinflussen kann, beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Ebenso beginnt meine Wunde wieder stärker zu bluten. Ich muss es aufhalten, ich muss Neyri noch etwas mehr Zeit geben, aber ich habe keine Idee, was ich noch tun kann. Nur ein wenig mehr Zeit... Halt mich fest...

Die erste Frage, als sie sich der Höhle und dann uns mit schnellen Schritten nähert, ist: "Frawzo srak? Po rerey mi srak?" (Ist alles in Ordnung? Lebt sie noch?). Korlan und die Kinder sprechen durcheinander. Jeder will Neyri zuerst sagen, dass ich noch nicht aufgegeben habe. Ich bin schwach, zu schwach, um meine Augen zu öffnen, aber ich lebe noch. Die Stimmen um mich herum werden lauter, denn Neyri gibt klare, präzise Anweisungen an Korlan und die beiden Kinder. Sa'nu (Mama) wird Euch nicht im Stich lassen.

Neyri bittet Korlan und Ryatxì, mir noch etwas zum Trinken zu geben und sie erkennt meinen immer noch zum Teil am Körper klebenden Verband, den May alleine nicht vollständig ablösen konnte, weil sie mir nicht weh tun wollte. Sie muss noch lernen, dass man manchmal Dinge tun muss, die man nicht tun will. Niemand kann vor solchen Aufgaben davon laufen, auch ich nicht. Neyri sorgt dafür, dass man mir etwas Tee gibt. Sie schickt den Jungen hinaus, um frisches Wasser zu holen und dann erzählt sie knapp aber präzise, was Tse'law (Tsahìk des Clans der Wassernebel) sie gelehrt haben muss.

Als Neyri gesprochen hat und ich erkenne, was sie nun tun wird, bekomme ich Angst. Es ist nicht die Angst zu sterben, sondern die Angst vor den unsagbar qualvollen Schmerzen, die sie mir mit Hilfe der anderen zufügen muss, um meine Wunde zu behandeln. Auch wenn ich nicht alles verstehe, was sie besprechen weiß ich, dass Neyri bei dieser Aufgabe kein Fehler unterlaufen darf. Ich verstehe von dem Gespräch nur so viel, dass Tse'law Neyri eine Art Harz gab. Neyri wird das Blutband (Artiere) in meinem Bein mit dem Messer zunächst durchtrennen müssen, um es mit Hilfe dieses Harzes dann wieder neu zu verbinden. Um besser sehen zu können, wird Ryatxì meine Wunde immer wieder mit Wasser ausspülen. Korlan bekommt die Aufgabe, mein Bein zu halten. Die vier haben nur eine einzige Chance, weiß ich. Geht es schief, wird das verbleibende Blut meines Körpers sich mit jedem meiner Herzschläge in unsere Höhle ergießen, ich werde irgendwann einschlafen und nie wieder aufwachen. Aber ich habe dennoch nur Angst vor dem zu erwartenden Schmerz, denn ich weiß, Neyri wird alles richtig machen, die anderen ebenso.

Es vergehen endlos lange Momente des Wartens. Ich höre die vier miteinander reden, kann aber nicht alles verstehen und so bereite ich mich auf einen Schmerz vor, den ich bislang noch niemals in meinem Leben spüren und ertragen musste. Jeden Moment erwarte ich, dass mir jemand ein Stück Torukspawm (Riesenpilz) unter meine Zunge schieben wird, der mir den Schmerz wenigstens ein wenig nehmen wird. Neyri ist jedoch schlau genug, dies nicht zu tun, denn sie weiß, dass mein Körper zu schwach ist, den Pilz auch dort festzuhalten und sollte ich das Stück schlucken, würde dies meinen Tod nur schneller herbeiführen.

Mein Bein schmerzt, als May die Wunde mit ihren Fingern weit öffnet, damit Neyri besser sehen kann, was sie tut. Ich spüre schmerzvoll jeden Schlag meines Herzens in meinem Bein, aber ich muss ruhig bleiben, darf mich nicht bewegen. Neyri leitet May an, das Blutband (Arterie) an einer Seite fest zusammen zu drücken. Meine Gedanken sind bei ihr und dann spüre ich mein Bein nicht mehr. Es ist, als wäre es nicht mehr an seinem gewohnten Platz. Meine Gedanken sind ganz bei den Kindern. Ich möchte sie umarmen, ihnen sagen, dass ich sie liebe.

Etwas kühles läuft über mein Bein. Ryatxì befolgt wohl Neyris Anweisungen und sorgt mit viel Wasser dafür, dass Neyri und May sehen können, was sie tun. Er ist sehr tapfer. Bestimmt hat er große ANgst, etwas falsch zu machen. Ich weiß nicht, was genau May und Neyri mit meinem Bein tun, aber ich spüre Schmerzen, ahne jedoch nicht, dass dies erst der Anfang ist. Erst als Neyri dem Jungen sagt, dass er nun kein Wasser mehr auf die Wunde gießen soll, ahe ich, dass der bisherige Schmerz nichts ist im Gegensatz zu dem, was mich nun erwartet.

Im gleichen Augenblick, als Neyri den Kindern sagt, dass es nun beginnen wird, empfinde ich einen unglaublich stechenden Schmerz in meiner Wunde. Ich spüre, wie sich alle Musskeln meines Körpers dagegen wehren und ich kann nichts tun, um dies zu verhnidern. Es ist, als würde mir jemand mit einem Speer mitten in mein Bein stechen. Sie sollen aufhören, wünsche ich mir. Sie sollen mich einfach hier liegen und sterben lassen, als mir solche Qualen anzutun. Ihre Stimmen werden immer leiser, bis ich sie nicht mehr hören kann. Ich sehe verschwommene Bilder. Es ist hell, doch ich kann nichts erkennen.

Ich spüre, dass mein Körper sich wie von alleine aufrichtet, ohne zu wissen, woher er die Kraft dafür nimmt. Ich will mein Bein bewegen, um diesem unsagebaren Schmerz zu entkommen, aber es geht nicht. Mein Bein scheint eingeklemmt zu sein, denn es gehorcht mir nicht. Ich spüre, wie mein Herz rast und mir ist kalt, unglaublich kalt. Es ist, als würde mir ein Palulukan (Thanator) versuchen, das Bein abzureißen. Dann wird es dunkel um mich herum, meine Gedanken sind verchwommen und ich bereite mich darauf vor, nun für immer einzuschlafen. Ich bin glücklich, denn ich weiß, wir werden irgendwann alle wieder in Eywa vereint sein. 

Habe ich wieder geschlafen? Bin ich an einem anderen Ort?  Ich kann nichts hören, nichts sehen. Was ist mir mir? Wo ist Korlan, wo der Junge, May und wo ist Neyri?  Ich spüre, dass mein Herz schlägt. Es schlägt schwach, aber es schägt. Was ist geschehen?  Wo bin ich?  Meine undeutlichen Gedanken kreisen. Dann wird es wieder hell um mich. Ich sehe Feuerschein. Dann spüre ich, dass jemand zaghaft nach den Fingern meiner Hand greift. Es dauert lange, bis meine Augen wieder so weit funktionieren, dass ich Korlan und Maytames Gesichter, wenn auch nur unscharf und schemenhaft, erkennen kann.

Ich bin müde, unsagbar müde. Dann erst spüre ich, dass dieser unsagbar große Schmerz nicht mehr da ist. Ich spüre Schmerzen, doch im Gegensatz zu dem zuvor verspürten Schmerz ist es jetzt erträglich. Aber wo ist Neyri?  Wo ist Ryatxì?  Was ist mit mir?  Es kostet mich viel Kraft, meinen Kopf zu drehen, dann sehe ich zwei Füße. Nie zuvor war ich darüber so glücklich, Neyris Füße zu sehen, wie jetzt. Bitte halte mich, umarme mich. Ich spüre einen Wassertropfen, der auf meine Stirn fällt. Er muss von Neyri kommen, denn ich spüre, dass sie weint.

Wieder spüre ich große Müdigkeit in mir, aber soll ich schlafen?  Erst Neyris Worte erlauben es mir, denn sie sagt: "Set nga zene hivahaw set, ma yawntu." ("Du musst jetzt schlafen, Liebste."). Deine Stimme tut gut, Deine Nähe zu spüren, gibt mir Zuversicht. Mühsam schaue ich zu Maytame und Ryatxì. Ich sehe ihre Augen und obwohl Tränen aus ihnen heraus laufen weiß ich, dass sie glücklich sind. Sie haben gekämpft und sie haben diesen Kampf gewonnen. Ich bin sehr stolz auf Euch.

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