Mittwoch, 25. März 2020

Maytamel uniltsola oet | Maytame hat von mir geträumt

Immer noch liege ich verwundet in unserer Höhle. Ich fühle mich manchmal etwas einsam, denn ich höre die Kinder vor der Höhle spielen und ich höre die Geschäftigkeit der anderen. Ein wenig schmerzt es in meinem Bein. Neyri erklärt mir, dass dies nicht ungewöhnlich sei und dass ich mich nicht sorgen soll, da sie und auch Maytame meine Wunde weit öffnen mussten. Nur so konnte sie das Blutband (Arterie) zusammenfügen und mich so vor dem sicheren Tod bewahren.



Neyris Tee ist gut. Ich spüre, wie er mich, wenngleich auch recht langsam, immer stärker macht. Gerade reicht sie mir eine Frucht, als wir einen verängstigten Ruf aus dem oberen Höhlenbereich hören. "Ma sa'nuuuuuuu!" ruft jemand und sofort erkenne ich Maytames Stimme, in der ich Angst spüre. Ein Schmerz durchzieht mein Herz, denn ich möchte aufstehen, ich möchte zu ihr. Bestimmt hatte sie einen bösen Traum und ich möchte sie trösten, aber meine Verletzung zwingt mich, dies nicht zu tun. So bitte ich Neyri, zu den Kindern hinauf zu gehen, um nach ihnen zu sehen, was  unnötig ist, denn sie hörte den Ruf ebenso wie Sey und ich.

Sofort läuft sie nach oben und es ärgert mich, hier tatenlos liegen und warten zu müssen. Hoffentlich bringt Neyri die Kinder zu mir. Was hat May geträumt, dass sie so verängstigt ist?  Oder hat sie vielleicht Schmerzen und braucht Hilfe?  Wo ist Ryatxì?  Haben die beiden sich wegen irgendetwas gestritten?  All diese Fragen gehen mir durch den Kopf und ich hoffe, bald Antworten zu bekommen.
Sey versucht mich zu beruhigen und ich bin ihm dankbar dafür. Er lenkt mich ein wenig von diesen Gedanken und Fragen ab.

Eine lange Zeit vergeht, aber ich höre nichts von den Kindern oder Neyri. Dann höre ich Schritte und es ist mein kleines Mädchen, das auf mich zugelaufen kommt. Sie hat geweint, das sehe ich ihr sofort an und es tut mir weh. May ist immer noch ängstlich, als sie sich zu mir setzt. So gut es geht, richte ich mich auf, um sie in den Arm zu nehmen. Mein Bein schmerzt, doch ich nehme es hin. Dann erzählt sie mir, dass sie etwas schlimmes geträumt hat und ich höre ihr zu, auch wenn ihr Traum mich traurig werden lässt.

Sie erzählt mir, dass sie davon geträumt hat, nach mir zu rufen, aber sie bekam keine Antwort. Sie beschreibt, nach mir gesucht zu haben und als sie mich fand, hätte sie festgestellt, dass ich nicht mehr leben würde. Es tut mir weh, als sie sagt, sie habe in ihrem Traum versucht mir zu helfen, dass jedoch all ihre Bemühungen vergeblich gewesen seien, die Blutung in meinem Bein aufzuhalten. Geduldig und mit schmerzendem Herzen höre ich ihr zu, streichle ihren Rücken und sage ihr schließlich, dass sie nichts falsch gemacht hat. Ganz im Gegenteil. Hätten Ryatxì und sie Neyri nicht bei ihrer gefährlichen Arbeit geholfen, hätten sie nicht Neyris Anweisungen strikt befolgt und hätten sie nicht um mein Leben gekämpft, wäre dies mein sicherer Tod gewesen.

Neyri und Ryatxì, die inzwischen ebenfalls bei mir sind, hören ebenfalls Maytames Geschichte zu. Ich weiß, sie hat große Angst davor Fehler zu machen, zu versagen und vielleicht sogar auch einmal jemandem nicht rechtzeitig helfen zu können. Sie wird lernen müssen, dass der Tod ein Teil unseres Lebens ist. Irgendwann wird für jeden von uns der Tag kommen, an dem ihm selbst der beste Heiler, die weiseste Tsahìk (spirituelle Clanführerin) oder der stärkste und mutigste tsamsiyu (Krieger) nicht helfen wird können. Wir alle werden zu Eywa gehen, doch dort aber werden wir alle wieder vereint sein. Maytame muss lernen, ihre Angst vor solchen Dingen zu überwinden.

Neyri bringt mir noch etwas von dem Tee und will dann für alle etwas zum essen zubereiten. So bitte ich Sey und die Kinder, mich nach draußen zum Clanfeuer zu tragen. Ich mag nicht mehr hier liegen und mich alleine fühlen, obgleich ich nicht immer alleine bin. Sey holt von draußen eine Trage und er und Maytame legen mich darauf und ziehen mich hinaus zur Feuerstelle. Ich sehe für einige Momente den Himmel, ich höre Tiere und ich fühle, dass es mir gut tut.

Dann sehe ich unser Clanfeuer. Es wird immer brennen, so lange es den Clan der Rey'engya gibt. Heute aber sehe ich die Flammen anders. Sie verbrennen Holz, aber sie sind auch lebendig. Habe ich verlernt, solche Dinge zu sehen?  Habe ich verlernt, mich an den Flammen und ihrem Spiel, den aufsteigenden Funken zu erfreuen?  Habe ich den Blick für bestimmte Dinge verloren?  Gedanken kreisen in meinem Kopf, die jedoch von dem kleinen Mädchen, das dort neben mir sitzt, unterbrochen, als sie sagt: "Ma sa'nu zene oe pivlltxe ngahu." ("Mami, ich muss mit Dir sprechen.").

Ihre Stimme klingt leise, beinahe etwas enttäuscht, als sie Sey und mir erklärt, dass sie einen anderen Lehrer haben möchte. Sey ist bestimmt ebenso erstaunt wie ich und ich frage sie daher, wie sie zu diesem Entschluss kommt?  May erklärt uns, dass sie enttäuscht ist, da Neyri ihr bisher wohl erst wenige Dinge beigebracht hat. Sie argumentiert sachlich, dass sie von mir in etwa der selben Zeit deutlich mehr gezeigt bekommen habe. Sie zählt vieles davon auf und sie fragt uns beide, warum Neyri sich ihr gegenüber so verhält?

Sey und ich schauen uns an. Ich weiß, wir denken gerade das selbe. Daher geben wir May zu bedenken, dass Neyri noch nie zuvor einen Schüler hatte, dass sie keine Erfahrungen mit der Ausbildung hat und dass sie in diesem Punkt selbst noch eine Schülerin ist. Wir erklären ihr, dass Neyri auch durch sie neue Dinge dazu lernt, dass sie aber ihre sa'nu (Mama) deshalb nicht verstoßen oder einen anderen Lehrer wählen soll. Viel eher soll sie auf Neyri zu gehen, sie immer wieder fragen, sie bitten Ihr Dinge zu zeigen. Das hat Neyri, denke ich, nicht verdient. Ich weiß, sie liebt May und den Jungen sehr und sie würde nichts tun, das Mays Ausbildung verhindern würde. Auch erinnere ich May daran, dass wir beschlossen hatten, dass niemand alleine in den Wald hinaus geht und dass Lehrer und Schüler immer jemanden mitnehmen sollten, der die beiden beschützen kann, solange wir mit den sawtute (Himmelsmenschen) im Krieg sind.

Zuvor hatte ich in der Höhle kurz mit Sey alleine gesprochen. Ich hatte ihm erklärt, dass ich beschlossen habe, Neyri zu ersten Heilerin zu ernennen, dass ich mir aber von ihm wünsche, es ihr vor dem Clan zu sagen. Neyri hatte mich vor einigen Tagen zu einem Gespräch aufgefordert und mir etwas erklärt hat. Offenbar hat sie einen Weg gefunden, Stolz für Dinge empfinden zu können, die sie vollbracht hat. Ich hatte es schon beinahe aufgegeben, ihr dies zu erklären, ihr zu verdeutlichen, dass sie eine stolze Na'vi ist und dass sie auf Dinge, die sie gelernt hat, auf Prüfungen, die sie erfolgreich abgeschlossen hat, stolz sein kann. Dieses Gefühl kannte sie bisher nicht, erklärte sie mir und ich bin sicher, dass ihre lange Gefangenschaft bei den sawtute (Himmesmenschen) daran Schuld ist.

Sey kommt dann der Gedanke, Mays Wünsche aufzufassen und diese beiden Dinge miteinander zu verbinden indem er erklärt, dass er Neyri erst dann zur ersten Heilerin ernennen wird, wenn May ihre Ausbildung abgeschlossen hat und wenn May in dieser Zeit keinen anderen Lehrer gewählt hat. Ich teile seine Ansicht nicht vollständig, akzeptiere aber diese Entscheidung. Neyri wird sicher auch viele neue Dinge dazu lernen und ich bin sicher, sie wird sehr stolz auf May, vor allem aber auf sich selber sein, wenn das Mädchen erstmals auf seinem eigenen Ikran (Banshee) sitzt und wir ihren ersten Kampfruf hören, während sie an uns vorüber fliegt.

Dennoch nehmen wir Maytame nicht ihre Entscheidung. Wenn sie der Ansicht ist, dass Neyri nicht die richtige Lehrerin für sie ist, werde ich Neyris Stelle übernehmen und ihre Ausbildung, sobald ich wieder gesund bin. Ich weiß, dies würde Neyri sehr verletzen und es würde sicher zu Spannungen zwischen uns kommen. Eine schwierige Situation für mich. Was soll ich tun?  Zuerst einmal werden wir jedoch mit Neyri sprechen. May soll ihr das gleiche sagen, was sie Sey und mir gerade erzählte. Dann werden wir gemeinsam nach einer Möglichkeit suchen und ich bin zuversichtlich eine solche zu finden. Neyri hat meine Wunde heilen können und ich bin sicher, dass wir auch ein Problem, welches deutlich geringer ist, werden lösen können.

Sey wird müde und legt sich zum Schlafen hin. Ich bitte May, sich zu mir auf die Trage zu legen. Ich möchte sie halten, möchte sie trösten, für sie da sein und ich will nicht alleine sein. Mein Mädchen schläft längst, während ich noch lange die Flammen unseres Feuers beobachte, bis auch ich dann irgendwann einschlafe.

Keine Kommentare :