Dienstag, 19. Mai 2020

Sa'nu ist sehr wütend auf mich

Einige Tage leben wir schon im Kelutral (Heimatbaum) der Lukara, nachdem unser Clan von den Sawtute (Himmelsmenschen) zerstört wurde. 
Ich mag den Heimatbaum. Er ist groß und überragt alle Bäume im umliegenden Wald. Auch, wenn wir uns noch nicht so sehr eingerichtet haben, fühlen wir uns wohl dort.


Es ist noch recht dunkel, als ich mich an einem frühen Morgen aus dem Heimatbaum schleiche. Ich schaue mich in der Gegend um und entdecke in der Nähe des Eingangs, rechts von mir, ein Pa'li (Schreckenspferd). Es knabbert friedlich an ein paar Pflanzen und lässt sich nicht stören. 
Vorsichtig gehe ich auf das Tier zu. Erneut frage ich mich, ob es sich bei dem Pa'li um meine tierische Freundin Laney handelt. Vielleicht ist sie uns vom alten lager hier her gefolgt? Korlan sagte, dass manche Tiere dies tun. Ob sie es auch getan hat? 

Maytame und ihr Pa'li am See im alten lager
Meine Neugierde bewegt mich dazu, auf den Rücken des Pa'li klettern. Denn Laney hat eine Narbe auf dem Rücken, wo einer Verletzung, die meine Sa'nu damals versorgt hat. 
Und tatsächlich entdecke ich die Narbe an der Flanke des Pa'li. Ein Grinsen schleicht sich auf meine Gesicht und freudig umarme ich meine tierische Freundin. 

Doch plötzlich ertönt ein Knacken im Wald. Laney schreckt auf. Mit einem wahnsinnigen Satz galoppiert sie los in den Wald. Verzweifelt klammere ich mich an ihrem Hals fest, habe Angst loszulassen und zu fallen. 
Das Pa'li galoppiert in schnellem Tempo durch den Wald. Im Dunkel kann ich irgendwann den Bach erkennen. Laney springt darüber und ich kann mich in diesem Moment nicht mehr halten. Als ihre Hufe wieder auf dem Boden aufkommen, werde ich nach oben geschleudert und lande mit einem lauten Platsch im Bach. Aus Schreck und Schmerz schreie ich auf, denn mein Rücken tut sehr weh. 

Ich höre, dass Laney in einigen Metern Entfernung stehen bleibt und unter Schmerzen krabble ich aus dem Bach. Es ist noch recht dunkel und ich kann kaum etwas sehen.
Einige Zeit später höre ich wie meine Sa'nu (Mami) nach mir ruft: "Ma Maytame, fitsengit tok ngal srak?" (Maytame, bist du hier?).
"Ma Sa'nu, oel fitsengit tok", rufe ich in die Dunkelheit (Mami, ich bin hier).
Irgendwann merke ich, wie jemand nahe an mir vorbeigeht und ich greife ins Dunkel. Ich bekomme einen Schweif zu fassen, der recht lang ist, also kann es nur meine Sa'nok (Mutter) sein. 
Sie kniet sich zu mir runter und fragt, ob ich mich verletzt habe. Sie klingt sehr böse und ich kann es verstehen. 
Korlan trägt mich zum Kelutral (Heimatbaum) zurück und setzt mich auf einem Fell ab. Mutter untersucht mich und sagt, dass ich mich nicht sehr schlimm verletzt habe. Und dann muss ich ihr erklären, was geschehen ist. Also erzähle ich von meiner Vermutung mit dem Pa'li und muss ihr versprechen so etwas nicht noch einmal zu tun. 

Ein paar Tage später entdecke ich am Heimatbaum eine sehr lange Liane, die nach oben in den Baum führt. Sie ist versteckt zwischen einigen Büschen. Neugierig klettere ich hinauf und komme ganz oben im Baum an, dort, wo die Ikrane (Banshees) ihre Nester haben. 
Fasziniert schaue ich mich um und setze mich schließlich in die Nähe von Ya'rri (Kxiryas Ikran).


Zunächst beachtet er mich nicht. Doch dann dreht er seinen Kopf du faucht mich an. Ich erschrecke, bleibe aber ruhig sitzen und beobachte das große Tier weiter. 
Wie ich aber schnell feststelle, gefällt dem Ikran das gar nicht. Immer wieder faucht er mich an und kommt langsam auf mich zu. Ängstlich schaue ich zu der Liane, an der ich auf den Baum geklettert bin, komme aber nicht zu ihr, da Ya'rri (Kxiryas Ikran), mir den Weg versperrt. 

Irgendwann springe ich auf, doch Ya'rris kräftiger Schwanz schlägt mich nieder und ich merke wie mein Arm schmerzt. Bei meinem zweiten Versuch schaffe ich es mich ein Stück von dem Ikran zu entfernen. Doch schneller, als mir lieb ist, liege ich wieder auf dem Boden und der Ikran ist über mir. Ich mache mich so klein wie möglich und kneife die Augen zusammen. Ich ahne das Schlimmste. 
Plötzlich aber lässt das Tier von mir ab und, als ich aufschaue, entdecke ich meine Mutter. Schnell stehe ich auf. 
"Runter, sofort!", sagt sie zu mir und ich sehe und höre, dass sie sehr wütend ist. 
Ich klettere eine Liane hinab, die auf einen Stamm des Heimatbaumes führt und wenig später kommt sie mir hinterher. 
"Ich sagte runter!", sagt sie böse und ich laufe schnell weiter.
Unten im Baum angekommen muss ich ihr erklären, was ich mir dabei gedacht habe. Zögerlich erzähle ich ihr von der Liane, dass ich die Ikrane beobachten wollte und Ya'rri mich angegriffen hat. 
"Was glaubst du, welche Strafe erwartet dich?", fragt sie.
"Das ich den Baum nicht mehr verlassen darf", meine ich, doch es kommt schlimmer.
"Einmal das und du wirst solange keine Karyu (Lehrerin) mehr haben, bis du bewiesen hast, dass du es verdient hast, wieder eine Numeyu (Schülerin) zu sein!"

Schweigend nehme ich die Strafe hin, denn ich weiß, dass ich sie verdient habe. Ya'rri hätte mit töten können, denn ich bin in sein Revier eingedrungen. 
Traurig verkrieche ich mich an den Rand des Baumes und setze mich in eine Ecke.


Sa'nu (Mami(, Ryatxi und Korlan bereiten die Stelle für das neue Clanfeuer vor. Doch ich darf ihnen nicht helfen. Ich höre sie reden und oft tut es mir im Herz weh, was sie sagen. Mutter glaubt nicht daran, dass ich irgendwann eine Heilerin sein werde und auch ich zweifle daran. 
Als ich hunger bekomme traue ich mich zunächst gar nicht zu fragen, ob ich mir etwas zu essen holen darf. Aber Mutter sieht meinen suchenden Blick und erlaubt mir, dass ich hinaus gehe und mir Früchte hole. Das tue ich und lasse mich schnell wieder in der Ecke nieder.

Schweigend esse ich die Früchte und trinke etwas was. 
Ich bin sehr traurig, dass ich wieder etwas falsch gemacht  und meine Sa'nu (Mami) wieder enttäuscht habe. Was wird Neyri dazu sagen? Sie wird bestimmt auch sehr böse auf mich sein und auch enttäuscht. 

Vielleicht bin ich doch noch nicht alt genug um eine Schülerin zu sein. 









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