Montag, 5. Oktober 2020

Fko syaw por Ateyo | Man nennt ihn Ateyo

Nur langsam scheint der Alltag wieder Einzug in den Clan zu erhalten. Viele Dinge fehlen jedoch immer noch. Korlan, Sey und die anderen helfen wo sie können, um neue Schalen, Werkzeuge, Kleidung und was wir sonst noch so alles benötigen, zu sammeln und herzustellen. Nachdem Korlan, Neyri und auch die Kinder mir geholfen haben, einen neuen Webstuhl zu konstruieren, wird es nun bald immerhin möglich sein, Tücher, Verbände und neue Kleidung herzustellen, doch es wird noch ein langer Weg, bis dieser fertiggestellt sein wird. Es fehlt einfach an allem.

Vor allem die Kinder leiden noch unter dem Ortswechsel. Ihnen fehlen viele Spielzeuge. Die Umgebung ist ebenso noch neu und unbekannt für sie, wie sie es für uns ist. Doch manchmal glaube ich, sie werden leichter damit fertig, als wir Erwachsene. Auch wenn ich Maytame betrafen musste, was mir sehr schwer fiel, scheinen sie und auch Rytaxì mehr und mehr den Kelutral (Heimatbaum) als neue Heimat zu akzeptieren. Darüber bin ich sehr froh.

Oftmals wache ich nachts auf. Gedanken gehen mir durch den Kopf. Wie soll, wie wird es weiter gehen? Immer noch schlafen wir auf dem Boden des Kelutrals (Heimatbaumes) auf einfachen Fellen und Tüchern. Ich wünsche mir sehr, dass wir bald wieder unsere Nivi (Hängematten) haben werden. Doch ich will den Clan auch nicht nur zur Arbeit antreiben. Ich weiß, sie alle sorgen sich, sie alle sind noch nicht mit ihren Herzen hier an diesem Ort. So bin ich geduldig, freue mich über jeden kleinen Fortschritt und tue was ich kann, um sie zu unterstützen, ihnen Rat zu geben und sie auch manchmal zu trösten.

Hin und wieder höre ich Neyri weinen. Sie wird Erinnerungen haben und Träume. Ich weiß, sie braucht viel Halt, doch ich bewundere sie auch. Sie lebt nun wieder an jenem Ort, den sie einst unfreiwillig verließ und an dem all jene Erinnerungen an ihren Clan, an Eylvì, ihre einstige Freundin, an ihre Eltern und auch an jenem Ereignis hängen, das ihr Leben vollkommen veränderte. Sie ist stark, auch wenn sie selber es manchmal nicht sehen kann.

Nachdem wir gestern den Wald erkundeten und dabei neue Vorräte sammelten, wollen wir nun heute endlich den Webstuhl fertigstellen, den wir aus Überresten eines alten Gestells, das vor dem Kelutral (Heimatbaum) liegt, und neu hinzugeholten Ästen und Stämmen gemeinsam gebaut haben. Korlan, ich, Neyri und die Kinder packen mit an, doch die Stämme sind schwer. Korlan und ich haben große Mühe, sie so lange zu halten, bis die Kinder sie festbinden können. Der Abend bricht schon bald herein und wir beschließen, diese Arbeit auf morgen zu verschieben, da wir hungrig und auch müde sind. Immerhin, der Anfang ist getan und darum bin ich zufrieden.

Von uns allen, zunächst unbemerkt, entdeckt Korlan dann einen fremden, der wohl schon eine geraume Zeit draußen vor dem Kelutral (Heimatbaum) gestanden und uns bei der Arbeit zugesehen haben muss. Korlan führt ihn zu uns hinein und noch ehe wir alle seinen Namen kennen, hilft er uns spontan, den Webstuhl doch noch aufzubauen. Er sieht recht jung aus und ich bemerke, dass er sich unsicher fühlt. Doch er scheint ehrgeizig zu sein, denn obwohl er sagt, er hätte so etwas noch niemals gemacht, ist er uns eine große Hilfe. Hat Eywa ihn zu uns geschickt?

Natürlich bieten wir ihm an, die Nacht bei uns zu verbringen. Aus dem Wenigen, das wir haben, machen Neyri und ich rasch für alle etwas zum Essen und einen Tee. Dann erfahren wir, dass er Ateyo heißt und aus dem Clan der Otranyu kommt. Er erzählt uns, es sei ein sehr kriegerischer Clan und man hätte ihn losgeschickt, um von anderen Clans zu lernen. Ich beobachte ihn. Seine Körpersprache, was er sagt und wie er es sagt, all das gibt mir einige Rätsel auf. Er wirkt unsicher. Immer wieder scheint er ausweichend auf meine Fragen und die der anderen zu antworten.

Ateyo erzählt, dass man ihn einen Feigling nennt, weil er Angst zeigt. Er sagt, man lache ihn aus und hätte ihm oftmals gesagt, er würde es niemals zu etwas bringen, er würde niemals ein großer tsamsiyu (Krieger) werden und vielleicht Olo'eyktan (Clanführer). Ich frage mich, warum er so denkt? Angst zu zeigen ist niemals falsch. Sicher, sie gegenüber einem Gegner zu zeigen ist ein großer Fehler, aber dass sie ihn lehrten, keine Angst haben zu dürfen, finde ich merkwürdig und auch falsch. Ich, wir lehren unsere Kinder, mit ihren Ängsten umzugehen. Wir sagen ihnen, dass sie weinen sollen, wenn sie traurig sind. All dies ist keine Schande und es ist ein Teil von uns. Ateyo jedoch scheint man dies völlig anders beigebracht zu haben und ich frage mich nach dem Grund dafür?

Ich glaube dann, dass es besser ist, ihn nicht weiter zu befragen und beschließe schlafen zu gehen. Es war ein langer, anstrengender, aber auch erfolgreicher Tag, denn wir sind wieder einen kleinen Schritt weiter. Endlich können wir Tücher und Kleidung herstellen und ich danke Eywa, dass sie Ateyo zu uns geschickt hat. Ich bin froh, als Neyri sich zu mir legt. In den letzten tagen hatten wir nicht viele Momente für uns und so schließen wir uns gegenseitig in die Arme und schlafen irgendwann ein.

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