Mittwoch, 14. Oktober 2020

Txopu sängi oe | Ich fürchte mich

Manchmal sind es Gedanken, manchmal Gefühle, manchmal sind es Dinge, die ich sehe, höre oder spüre. Wenn es geschieht, fühle ich mich oft ratlos und allein. Dann denke ich oft zurück an Mutter, an Vater, dem ich noch so vieles sagen wollte, es aber es nicht mehr konnte. Habe ich es nur nicht gesehen?  Habe ich es nicht sehen wollen?  Oder bin ich nur zu oft abgelenkt durch Dinge, die mir wichtiger erscheinen?

Ich träume in letzter Zeit sehr oft davon, dass der Feuerberg wieder ausbricht und dass er wieder unsagbares Leid über das Land bringen wird. Seit wir im Kelutral (Heimatbaum) der Lukara leben, sind wir sicherlich sicherer vor dem ihm, da er viel weiter von ihm entfernt liegt, als unser altes Lager. Doch ich sorge mich, wenn ich während der Nacht oder am Morgen aufwache, weil ich wieder solch einen beängstigenden Traum hatte. Vor einigen Tagen gingen wir wieder zu den ayutral aymokriyä (Stimmenbäumen) und auch dort gab es eindeutige Zeichen, dass es geschehen wird. Nur was wird geschehen?  Wann wird es geschehen?  Wird Eywa uns helfen?  Wird sie uns beschützen?  Ich habe Angst, Angst um meinen Clan, Angst um Mein Kind, um Neyri und ich habe um mich Oft bete ich zu unserer großen Mutter. Ich bitte sie, dass sie mein Leben nehmen soll, wenn dafür der Clan überlebt. Maytame, Du sollst leben, denke ich oft... Ich habe Angst...

Seit Ateyo zu uns kam, erlebe ich etwas, das ich schon lange nicht mehr gespürt habe. Er weiß es vielleicht nicht und tut es ohne Absicht, aber er gibt mir Kraft. Ich bin gerne in seiner Nähe, rede mit ihm oder zeige ihm etwas. Seit er erst vor kurzer Zeit sein erstes Yerik (hirschähnliches Tier) gejagt hat und ich ihm von dem damit verbundenen Ritual erzählte, spüre ich etwas neues, etwas, das ich sehr lange nicht gefühlt habe. Ich möchte ihn zum Jäger ausbilden. Auch wenn er zunächst fest davon überzeugt war, Krieger werden zu wollen, um seinen Clan, die Otranyu mit Ehre zu erfüllen spüre ich, dass dies nicht der Weg ist, den Eywa für ihn bestimmt hat. Zwar sagte ich ihm bereits, dass ich ihn als meinen Schüler erwählt hätte, doch ich sagte auch, dass auch er seinen Lehrer wählen muss. Ich hoffe jeden Tag auf seine Entscheidung und hoffe, dass er mich als Lehrerin wählen wird. Es würde mich sehr glücklich machen, ihm all mein Wissen weiterzugeben, ich anzuleiten und vielleicht könnte ich ihm etwas von seiner immer währenden Unsicherheit nehmen?

Sey, Korlan und selbst die Kinder scheinen sich auch sehr gut mit Ateyo zu verstehen. Auch das macht mich glücklich. Er soll sich bei uns wohlfühlen, soll spüren, dass er so akzeptiert wird, wie er ist. Seine Eltern schimpften oftmals mit ihm, wie er erzählte. Sie nannten ihn einen skxawng (Trottel), wenn er einen Fehler machte. Was sind dies für Eltern?  Ich denke an Rytaxì und Maytame und frage mich, was geschehen würde, wenn Neyri und ich, wenn Sey oder die anderen sie auf diese Weise beschimpfen würden?  Es sind Kinder. Sie müssen und sollen noch so vieles von uns lernen. Ateyo jedoch läuft oftmals vor seinem eigenen Schatten davon, ohne zu wissen, dass ihm dies niemals gelingen wird.

Nach vielen Gesprächen wird mir allmählich klar, dass seine Eltern meskxawng (zwei Trottel) sein müssen nicht aber er. Sie redeten ihm ein, ein Krieger dürfe keine Angst haben, ein Krieger dürfe keine Gefühle zeigen oder gar weinen. Warum tun Eltern so etwas?  Lieben sie ihr Kind denn gar nicht?  Ateyo jedenfalls erzählt mir auch ohne Worte sehr vieles von sich, das mich so denken lässt. Ich mache mir immer noch Vorwürfe, dass ich mein Kind im Stich gelassen habe, auch wenn dies nicht so war und es sein musste. Ich habe sie fort gebracht, sie alleine ohne ihre Mutter gelassen und es tut mir manchmal immer noch weh. Es ist ein Teil von mir.

Doch noch etwas tut mir sehr weh. Vor zwei Tagen kehrte unerwartet Ne'wey zurück in unseren Clan. An sie hatte ich schon sehr lange nicht mehr gedacht, auch wenn ihr Name beim Erzählen von Geschichten manchmal im Clan genannt wurde. Sie war einst meine beste Freundin und wir teilten alles miteinander und nun steht sie vor mir, doch ich empfinde kein wirkliche Freude. Sicher, sie lebt, ihr geht es gut und sie scheint auch neue Erfahrungen im Clan der Wassernebel gesammelt zu haben, doch da ist noch etwas in mir. Wo war sie, als die sawtute (Himmelsmenschen) uns angriffen?  Wo war sie, als wir ihre Hilfe brauchten nach diesem Angriff und wo war meine beste Freundin, wenn ich selber oder jemand anderes jemanden brauchte, um mit ihm nur sprechen zu können?

Ich bin ihr nicht böse, denn dazu habe ich kein Recht und nicht einmal einen richtigen Grund, doch ihr Erscheinen löst Gefühle in mir aus, die ich bisher nicht kannte. Ist sie eine Fremde?  Sind wir noch Freunde, wie einst?  Ich weiß, ich werde mich ihr in einem Gespräch stellen müssen. Es gibt viele Fragen, die ich ihr stellen muss und werde, doch wie wird es danach sein?  Ich habe davor etwas Angst...

Nun sitzen wir hier am Feuer vor den Kelutral (Heimatbaum) und alle freuen sich, doch ich fühle mich wie ein Alien, eine ausgestoßene, weil ich so anders fühle. So gehe ich, ohne den anderen bescheid zu sagen, zu den (ayutral aymokriyä) Stimmenbäumen. Neyri ist mit Maytame im Kelutral (Heimatbaum) am Webstuhl undstellen wohl etwas her. Sie scheinen mich nicht einmal zu bemerken, scheinen mich nicht zu sehen, nicht zu erkennen, wie ich mich fühle. Vielleicht ist es auch gut so, alleine in den Wald zu gehen?

Es ist ruhig hier bei diesen Bäumen und ich lege, wie immer, meine Waffen ab um Eywa zu zeigen, dass ich nicht komme, um zu kämpfen. Schon nach kurzer Zeit höre ich die Stimmen unserer Ahnen und kurz darauf die Stimme des syaksyuk (Affen), meines Traumtieres. Ich sehe wieder Bilder von den vor uns liegenden Ereignissen, die den Feuerberg betreffen. Wieder habe ich Angst und ich denke daran, was ich Ateyo oftmals sage: "Du darfst Angst haben, ma Ateyo, sie aber nicht immer zeigen." und ich muss schmunzeln, denn ich spüre gerade Angst.

Erst die Stimme meines Traumtieres lässt mich wieder ein wenig hoffen, denn was er mir sagt und zeigt, nimmt mir ein wenig meine Angst. Ich bete zu Eywa, dass er mit allem Recht haben soll, doch kann ich es nicht genau wissen. Meine Angst schlägt um in ein anderes, noch viel schlimmeres Gefühl: Unsicherheit. Ich bin die Tsahìk (spirituelle Clanführerin) und sollte solche Gefühle niemals haben. In Gedanken gehe ich zu unserem neuen Lager zurück und muss von diesen Gedanken so sehr abgelenkt sein, dass ich den 'angtsìk (Hammerkopf) erst bemerke, als es beinahe schon zu spät ist. Erst im letzten Augenblick kann ich mich auf einen hohen Baum flüchten, doch das Tier greift diesen Baum an und versucht ihn zum Umstürzen zu bringen. Dann, ganz plötzlich, lässt das Tier von dem Baum und damit auch von mir ab. Eywa beschützt mich, wird es mir wieder einmal bewusst und ich schleiche so schnell ich vorwärts komme, zu den anderen zurück.

Immer noch sitzen sie alle am Feuer, außer Maytame und Neyri. Ich gehe in den Kelutral (Heimatbaum), um dort meinen Bogen abzulegen, verlasse ihn aber gleich wieder, denn die beiden scheinen sehr beschäftigt zu sein. May möchte gerne wieder lernen und Neyri möchte wieder ihre Lehrerin sein. Am Feuer wird geredet. Ich hocke mich dazu und erzähle erst auf Bitten von Sey, was ich von unseren Ahnen und meinem Traumtier erfahren habe. Jedoch erwähne ich nicht die Flucht vor dem 'angtsìk (Hammerkopf), denn ich spüre eine merkwürdige Stimmung rund um unser Feuer und sage mir, dass es vermutlich niemand wird hören wollen.

Immer wieder schaue ich jedoch zu Ne'wey hinüber. Werden wir wieder Freundinnen sein, wie einst?  Werden wir uns noch immer vertrauen, wie einst?  Ich habe Angst...

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