Samstag, 17. Oktober 2020

Ateyol ftxoley karyut sneyä | Ateyo hat seinen Lehrer gewählt

Sorgfältig prüfe ich das einzige, das ich aus dem alten, zerstörten  Lager der Rey'engya retten konnte, als ich mit Neyri und Ateyo dort war. Mein rituelles Gewand, das ich vor langer Zeit aus sehr vielen Federn hergestellt habe. Durch Ruß und Rauch verschmutzt lag es etwas verstreut in unserer Höhle und selbst der Schädelknochen, den ich manchmal bei sehr wichtigen Ritualen trage, ist beinahe unversehrt. Ich konnte es zwar nur eher notdürftig reinigen, aber ich hoffe, dass Sey und Ateyo es mir nicht übel nehmen, wenn ich es dennoch heute bei Ateyos erstem Ritual bei den Rey'engya tragen werde. Allerdings werde ich mir einen neuen Bogen für Zeremonien bauen müssen, denn diesen konnte ich, so sehr ich auch danach suchte, nirgendwo entdecken und Neyri offenbar ebenso wenig, denn sie hätte es mir gesagt.

Nachdem ich mich umgezogen habe, beschließe ich zu den Kindern und zu Neyri zu gehen, um mich von ihnen zu verabschieden. Meine Sorge gilt immer noch dem Feuerberg, bei dem wir Korlan und Ne'wey treffen wollen, um die dort deponierten Waffen zu holen. Was, wenn er in dieser Zeit ausbricht?  Was, wenn es so überraschend geschieht, dass wir dabei sterben werden?  Wieder habe ich Angst, doch ich zeige sie nur Neyri und den Kindern gegenüber als ich ihnen sage, dass sie nicht nach mir suchen sollen, wenn ich oder sogar wir alle nicht zurück kehren werden. Sie sollen mich so in Erinnerung und in ihren Herzen behalten, wie sie mich kennen. Niemand soll einmal meinen toten Körper finden müssen, niemand soll ihn begraben müssen, so ist es mein Wunsch. Sollte Eywa mir einmal ein Zeichen geben, dass ich die von ihr geborgte Energie wieder an sie zurück geben muss, werde ich dies für mich ganz alleine tun. Den Ort dafür wählte ich bereits vor sehr langer Zeit und ich alleine werde dort hin gelangen, ganz gleich wie lange es auch dauern mag.

Maytame schaut mich traurig an. Neyri ebenso, auch wenn sie mich versteht. Ryatxì scheint ebenfalls traurig zu sein, doch lieber warne ich sie einmal mehr, als dass es sie völlig unvorbereitet überrascht, wenn jemand ihnen sagt, dass ihre sa'nu (Mama) niemals wieder zum Clan zurückkehren wird, weil ihre Seele zu Eywa gegangen ist. Ma pxevi, frakrr oe hawnu sasyi pxengaru (Ich werde Euch bestimmt immerzu beschützen, Kinder.)

Ohne mich nochmals umzusehen, verlasse ich den Kelutral (Heimatbaum). Ich sehe Ateyo mehr als deutlich an, dass er aufgeregt ist. Er scheint mich in diesem Gewand zunächst nicht zu erkennen, doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass es ihm vielleicht bekannt oder vertraut vorkommen könnte. Sey ist noch nicht ganz fertig und so nutze ich den kurzen Vorsprung, um voraus zu fliegen. Meine Gedanken gelten Ari'lana. Schon lange war ich nicht mehr bei ihr, schon lange hörte ich nicht mehr ihre Stimme. Ich will und darf sie nicht vergessen.

Ich lasse Ya'rrì (Kxìryas Ikran) heute einmal frei fliegen, befehle ihm nur die Richtung und den Ort. Ich spüre über unsere Verbindung, dass es ihm gefällt und so lasse ich ihn einige sehr gewagte Manöver fliegen. Manchmal muss ich mich fest an ihm halten, doch da ist etwas, das ich schon fast vergessen haben muss. Dann sehe ich die ayutral aymokriyä (Stimmenbäume) nahe unseres zerstörten Lagers und lande dort inmitten der Bäume, die ich vermisse. Hier ist ein großer Teil meiner Vergangenheit, hier wurden viel Rituale abgehalten, hier war ich einmal zu Hause, an diesen Ort habe ich so viele Erinnerungen.

Ich löse meine Verbindung zu Ya'rrì und nähere mich jener Stelle, die schon seit langer Zeit von einem Pfeil markiert wird. Ich knie nieder und verbinde mich mit den wenigen Wurzeln um jene Stelle, an der wir einst ein tiefes Loch gruben, an dem einst lange Zeit ein Haufen Erde zeigte, dass hier jemand begraben wurde, an den aber heute nur noch dieser Pfeil erinnert. Wo bist Du, kleines Mädchen?  Bitte sprich zu mir.  Ich warte sehr lange, doch heute höre ich sie nicht singen oder kichern, so als habe sie jemandem einen Streich gespielt. Dennoch weiß ich, sie ist hier, hier um mich herum und sie sieht und hört mich.

Nach einiger Zeit spüre ich, dass sich jemand nähert. Es sind Sey und Ateyo. Sey weiß natürlich, wozu ich hierher kam und er gibt mir noch einige Momente. Dann bitten wir Ateyo uns den Weg zu jenem Ort zu zeigen, an dem er das Yerikherz vergraben möchte. Es ist nur unweit von den ayutral aymokriyä (Stimmenbäume) entfernt und liegt inmitten einiger Loreyu (schöne Spirale). Ateyos Wahl finde ich gut überlegt, denn dort wird so schnell kein Jäger des Waldes das Herz ausgraben, da die Pflanzen dies verraten würden. Ateyo gräbt ein kleines Loch in den Boden und spricht ein Gebet. Er wirkt etwas unsicher, doch er macht es gut. Ich gebe ihm viel Zeit und spreche dann ein sehr langes Gebet. Auch Sey spricht und was er sagt, überrascht mich, gibt mir aber zugleich zu erkennen, dass Sey Ateyo nicht mehr als Besucher unseres Clans ansieht.

Ateyo scheint davon beeindruckt zu sein, aber ich vermute, dass es nicht das Gebet alleine ist, sondern das gesamte Ritual, das ihm bislang vollkommen unbekannt war. Er wirkt plötzlich sogar etwas bedrückt auf mich, aber es ist sein Ritual, wir halten es für ihn ab, um ihn zu ehren, um ihn den Weg unseres Clans zu lehren. Ich hoffe, Ateyo wird seine Ängste und seine Zweifel überwinden. Ich hoffe, Ateyo wird voraus blicken, stark sein, doch soll er auch Angst haben, er soll weinen, denn all dies wird ihn viel mehr lehren, als wir es können. Sey, ich oder die anderen werden ihn an Waffen ausbilden, ihm zeigen, wie man Fallen baut, sich versteckt, beobachtet, doch niemand wird ihn jemals lehren können Angst zu haben, sie zu verbergen, wenn dies nötig ist, sie zu zeigen, wenn es richtig ist. Niemand wird ihn lehren können zu weinen und zu wissen, dass es nicht falsch ist.

Während Ateyo das Loch mit Erde füllt frage ich ihn, wen er als seinen Lehrer gewählt hat?  Nun bin ich ein wenig aufgeregt, weil ich sehr glücklich wäre, würde er mich wählen. Ateyos Blick geht jedoch zu Sey und in diesem Augenblick weiß ich, auch Sey hat gewählt. Auch wenn mein Wunsch, meine Sehnsucht sich nicht erfüllt hat, spüre ich Freude in mir, denn ich kann Sey ansehen, was er nun in sich spürt. Es macht mich stolz, denn gleich, wen Ateyo wählte, die Rey'engya werden ihn alles lehren, was er wissen muss, was er wissen möchte und was wir ihn lehren können und auch wollen. Von Neyri und mir wird er nicht alles gezeigt bekommen, denn vieles davon würde er nicht verstehen, es aber auch als Jäger vermutlich niemals benötigen und einiges wäre viel zu gefährlich für einen Jäger.

Sey und Ateyo reden noch miteinander und ich nutze den Moment, um entgegen der Verabredung, nun doch zu den Kindern und Neyri zurück zu fliegen. Ich will sie einfach nur in meine Arme schließen, ihnen sagen, dass sie sich nicht sorgen, nicht länger auf mich warten müssen. Wieder lasse ich Ya'rrì  (Kxìryas Ikran) viel Freiheit und spüre wieder, dass er es mag, mit mir auf seinem Rücken sehr schnell über die Wipfel der Bäume, dicht über den Wellen der Flüsse und manchmal auch sehr waghalsig über Klippen dahin zu jagen. Habe ich es nur für lange Zeit ignoriert oder hatte ich bereits vergessen, was es mir bedeutet, auf diese Weise mit ihm zu fliegen?  Ich fühle mich wie eine Jägerin, vielleicht auch wie ein Kind. Einige Male rufe, ja schreie ich förmlich den Kampfruf der Rey'engya in den Wind.

Ich bin zugleich froh und auch traurig darüber, als ich dann oben im Kelutral (Heimatbaum) lande, landen muss. Ich kann es kaum erwarten, Neyri und die Kinder zu sehen, zugleich aber möchte ich auch fliegen, jagen, es spüren. Jetzt spüre ich keine Angst, zum ersten mal seit vielen Tagen.

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