Freitag, 17. April 2020

Zene hivum ayoel kelkut ayoeyä | Wir müssen unser Zuhause verlassen


Gleich nachdem ich aufwache, mache ich an diesem Morgen meine Gehübungen. Auch wenn Neyri und die Kinder es gut mit mir meinten, als sie mir diese Schiene an meinem rechten Bein anlegten, die mir das Gehen auch sehr erleichtert, will ich dieses Ding so schnell es geht wieder loswerden. Bald werden uns bestimmt die sawtute (Himmelsmenschen) wieder angreifen, ich habe ein merkwürdiges Gefühl in meinem Bauch. Bis dahin muss ich wieder laufen können. Ich kann und will für die anderen keine Last sein. Die ersten Schritte fallen mir noch schwer, denn obwohl Neyri ihr Bestes gab, stört diese Schiene mich, denn manchmal drückt sie ein wenig an meinem Oberschenkel.

Ich will zur Wasserstelle, um mich zu waschen. Auf dem Weg dorthin fällt mir auf, dass Neyri bisher noch nicht wieder ins Lager zurückgekehrt ist. Ich hatte Tsetu und ihr geraten, sie sollen etwas Zeit miteinander verbringen, um sich näher kennen zu lernen. Ich weiß, Neyri wünscht sich so sehr ein Baby, doch diesen Wunsch werde ich ihr leider niemals erfüllen können. So kamen wir zu der Überlegung Testu, einen unserer Krieger zu fragen, ob er bereit sei, Vater zu werden. Lange schon habe ich bemerkt, dass er ein Auge auf meine muntxate (Ehefrau) geworfen hat. Viele andere aus dem Clan sicherlich ebenso. Dann sprachen wir beide ihn vor einigen Tagen darauf an und er schien über unseren Vorschlag erfreut zu sein. Er wirkte auf mich jedoch zurückhaltend, ja beinahe schüchtern. Neyri kennt ihn noch nicht wirklich. Sie weiß nicht, woher er kommt und ebenso wenig weiß sie dass er ein Dieb war und man ihn deshalb einst aus seinem Clan jagte.

Der kurze Weg bis hin zur Wasserstelle kostet mich zwar noch viel Kraft, aber ich spüre, dass ich von Tag zu Tag besser laufen kann und heute habe ich zum ersten mal keine Schmerzen mehr. Als ich eben meine Füße ins Wasser halte und mich auf den Rand der Wasserstelle setze, kommt Neyri zu mir. Sie scheint sehr fröhlich zu sein und beginnt, nach einer kurzen, liebevollen und auch respektvollen Begrüßung, gleich von ihrem Ausflug zu erzählen. Ich höre ihr gespannt und auch neugierig zu. Was haben die beiden von sich erzählt?  

Neyri berichtet mir davon, dass sie die letzten Tage über mit Testu im Sumpfgebiet verbracht hatte. Sie beide hatten diesen Ort gewählt und ich bin ein wenig überrascht. Zwar weiß ich, Tsetu kennt diese Gegend wie kaum ein anderer von uns, aber dass Neyri ihn dorthin begleitet, überrascht mich schon ein wenig und es macht mich zugleich auch neugierig. Was wird sie mir wohl alles erzählen? Hat Tsetu ihr erklärt, wie er zu uns kam und hat er ihr auch den Grund für seine oftmals nur schlecht nachvollziehbare Verschwiegenheit gesagt?  Ich bin gespannt...

Neyri scheint sehr glücklich zu sein. Ich bemerke, dass ihre sanhì (Leuchtpunkte) beinahe strahlen. Ein Zeichen dafür, dass sie sich sehr wohl fühlt: "Wo sind die Kinder?", fragt sie und ich sage ihr, dass sie wohl noch in der Höhle schlafen, denn es ist noch recht früh am Morgen. Natürlich will sie gleich zu ihnen. Ich bitte sie jedoch, noch etwas abzuwarten. Ryatxì wird Maytame (Kinder von Kxìrya und Neyri) sicherlich zu uns schicken, sobald die beiden aufgewacht sind, denn sicher wird er noch Schmerzen in seinem Fuß haben, den er sich irgendwie verletzt hat. Auch das müssen Neyri oder ich noch genauer untersuchen, um ihm eventuell einen Verband anzulegen.

Ein lautes Geräusch zerreißt dann jedoch plötzlich die Stille in unserem Lager und auch unser Gespräch und sowohl Neyri, als auch ich sind besorgt, denn es kommt genau aus der Richtung, wo Surew und ich den Metallikran (Hubschrauber) der sawtute (Himmelsmenschen) gefunden haben, den wir gemeinsam zerstört haben und wo ich von diesem tawtute (Himmelsmenschen) so schwer verletzt wurde, dass Neyri und die Kinder alle Mühe hatten, mein Leben zu retten. Dass dieses Ereignis schon sehr bald das Leben des ganzen Clans sehr verändern wird, kann Neyri ebenso wenig vorausahnen, wie ich es kann. Schon bald werden sich die Ereignisse überschlagen, doch davon ahnen wir jetzt noch nichts.

Neyri geht dann doch voraus, um nach den Kindern zu sehen. Ich erkläre ihr, ihr zu folgen, sage ihr aber, dass sie nicht auf mich warten soll. Ich kann eben noch nicht so schnell gehen, wie sie es kann. Als ich einige Zeit nach ihr dann zu den Kindern komme, schlafen die beiden offenbar noch. Sie werden jedoch schlagartig wach, als wir die Geräusche von mehreren Metallikranen (Hubschraubern) hören, die sich unüberhörbar unserem Lager nähern.

Auch Korlan und Sey scheinen dieses Geräusch gehört zu haben, denn ich höre sie aus dem Lager stürmen. Immer wieder höre ich die Kampfrufe der beiden und dann auch den Ruf Tsetus, der ihnen wohl folgt, um sie zu unterstützen. Wie auf einen Befehl hin erkenne ich, dass es jetzt wohl sehr ernst wird. Mein Gefühl bestätigt sich nur wenige Momente später Ich kann es nicht einmal Neyri und den Kindern mitteilen, denn wir hören einen lauten Knall, dann noch einen. In diesem Augenblick weiß ich, dass sie unser Lager angreifen. Aber warum tun sie das?  Ich finde keine Antwort auf diese Frage.

Die Augen der Kinder zeigen pure Angst und Neyri und ich haben Mühe, sie zu beruhigen. Es ist Krieg, geht es mir durch den Kopf und auch wenn ich es in diesem Moment noch nicht begreifen kann, es ist so. Sie greifen uns an. Sie sind gekommen, um unseren Clan zu zerstören. Meine Gedanken gelten den Kindern. Wo sollen wir sie verstecken?  Wo sind sie sicher?  Und wo sind wir sicher?  Fragen, auf die ich nur eine Antwort habe: Hier in der Höhle. Jeder Versuch zu fliehen könnte den sawtute (Himmelsmenschen) verraten, wo wir sind. Der Felsen, der unsere Höhle bildet, ist sehr stabil und ich bin zuversichtlich, dass die Höhle uns daher den besten Schutz bietet.

Von draußen hören wir immer wieder die Einschläge der großen Feuerpfeile, die sie auf unser Lager schießen. Maytame und Ryatxì weinen. Sie haben Angst. Neyri entfernt rasch die Schiene an meinem Bein und schaut sich meine Wunde an. Ich bin erleichtert, als sie mir sagt, dass das besondere Harz, mit dem sie meine Wunde verklebt hatte, inzwischen verschwunden ist. Dies ist ein Zeichen dafür, dass meine Wunde gut heilt und dass ich schon bald wieder richtig werde gehen können. Gerade jetzt ist mir jedoch eher nach rennen zumute, denn wenn ich rennen könnte, würde ich jetzt die Kinder in ein sicheres Versteck draußen im Wald bringen und dann Sey und die Krieger unterstützen.

Neyri und ich haben sehr große Mühe, die Kinder zu beruhigen und so legen wir uns zu ihnen auf ihre Liege, um sie mit unseren Körpern zusätzlich zu beschützen. Neyri beginnt, ein Lied für sie zu singen und ich stimme mit ein spüre jedoch, dass May vor Angst zittert, denn natürlich fürchtet sie sich ebenso wie wir alle. Ich denke daran zurück, als ich sie vor langer Zeit, als wir auch einen Krieg gegen die sawtute (Himmelsmenschen) führten,  zu Mutters Clan brachte. Nein, jetzt werde ich es nicht tun. Ich werde sie und Ryatxì nicht noch einmal im Stich lassen, niemals. Ich habe es versprochen.

Wieder und wieder hören wir Einschläge und wir spüren sie. Rauch zieht in unsere Höhle. Wird sie vielleicht doch einstürzen?  Sind wir hier noch sicher?  Ich stelle meine Fragen nicht laut und zwinge mich zur Ruhe, doch die Erinnerungen an Kämpfe, die wir gegen die sawtute (Himmelsmenschen) hatten, treiben schließlich auch mir Tränen in die Augen. Werden wir sie beschützen können?  Dann durchzuckt mich ein Gedanke und ich bekomme Angst. Sind sie etwa gekommen, um die Kinder zu holen, so wie sie es einst mit Neyri taten?  Niemals werden sie Ryatxì und Maytame einfangen. Entweder ich werde sie beide töten, wenn ich keine andere Chance sehe oder ich werde sie, wo auch immer, verstecken?  Mir fällt nur ein sicherer Ort ein: Die Höhle unter unserem Lager.


Dort werden diese ayvrrtep (Dämonen) bestimmt nicht nach ihnen suchen. Ich hoffe. dass diese nicht auch längst zerstört wurde. Doch sie liegt sehr tief im Fels und ich glaube, dort sind sie sicher. Immer wieder hören wir, wie die Metallikrane (Helikopter) über unser Lager hinweg fliegen. Wieder und wieder schießen sie und ich wage es nicht mir vorzustellen, wie es draußen jetzt wohl aussehen mag. Die Stimmen von Korlan, von Sey, von Surew und auch Tsetu überschlagen sich. Aus den wenigen Wortfetzen, die ich bei dem Lärm wahrnehmen kann erfahre ich, dass sie wohl versuchen, die vielen Feuer mit Wasser zu löschen. Werden sie es schaffen?  Eywa, warum hilfst Du ihnen nicht?  Warum lässt Du es wieder zu, dass sie uns großes Leid antun?



Ich lege meinen Schweif um Neyri, ich liebe sie. Wir müssen die Kinder beschützen, nur dieser Gedanke zählt. Ich schaue kurz in Neyris Gesicht. Ihre Freude von vorhin ist völlig verschwunden, natürlich. Wäre sie doch nur mit Tsetu im Sumpfgebiet geblieben, wäre ihr jetzt dies hier erspart geblieben und Tsetu ebenso. Dann wird es leiser und ich höre, wie die Metallikrane (Helikopter) abdrehen. Als ich eben aufstehen will, um nach Sey zu suchen, ihn zu rufen, kracht es erneut, doch es war keiner ihrer Feuerpfeile (Brandbombe). Es kann nur die große Waldtrommel gewesen sein, die zerstört wurde. Ich höre das Holz der gewaltigen Stützen brechen. Mein Herz wird zu Stein. In diesem Moment wird mir, auch ohne es gesehen zu haben, bewusst, dass unser Lager verloren ist.

Ich höre Schritte, sie klingen hastig und kraftvoll. Es ist Sey, der wohl nach uns sucht. Dann ruft er unsere Namen und ich antworte ihm. Meine Vermutung bestätigt sich, als ich in sein Gesicht schaue und er mir, wenngleich auch sehr außer Atem, aber dennoch verhältnismäßig ruhig sagt: "Ruft die Ikrane und nehmt die Kinder. Es ist vorbei."  Allein die Tatsache, dass er uns nicht mit unseren Namen anspricht, sondern trotz aller Aufregung klar und sachlich redet, lässt meine Vermutung nun zur Gewissheit werden. Wir werden unser Lager verlassen müssen. Wird es für immer sein?

Ich glaube, allen ist in diesem Moment klar, wohin unsere Reise gehen wird. Neyri wirkt ruhig, als sie den Kindern sagt, dass sie nicht viele ihrer Dinge werden mitnehmen können. Ich weiß aber, wie aufgeregt sie sein muss. Nur wenige Spielsachen werden May und der Junge behalten können, denn es wäre zu schwer für unsere Ikrane (Banshees), würden wir alles mitnehmen wollen. Neyri packt in aller Eile nur die wichtigsten Dinge zusammen: Einige Verbände, ein paar Stücke der weißen Wurzel (extrem blutstillendes Heilmittel), etwas von dem Torukspawm (Riesenpilz, starkes Schmerzmittel) und einige andere Dinge.

Sie führt unsere Gruppe dann auch an, da ihr Ikran (Banshee) zuerst in der Luft ist. May fliegt mit ihr und ich bin glücklich als ich es sehe, denn dann ist sie schon fast in Sicherheit, weiß ich. Ryatxì klettert auf meinen Ikran und ich sage ihm, er soll ich ganz fest bei mir halten, denn ich werde so schnell wie möglich mit ihm aus dem brennenden Lager hinaus fliegen. Unsere Reise wird zum Kelutral (Heimatbaum) des einstigen Lukara Clans (Neyris Elternclan) gehen. Ich höre Sey, der offenbar Surew mit sich nimmt und ich höre Tsetus und auch Korlans Ikrane (Banshees) hinter mir.

Wo aber ist Sey'syu?  Es schießt mir plötzlich durch den Kopf.  Wurde sie etwa getötet und wir wissen es nicht?




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