Mittwoch, 22. März 2023

Lie si oe atanur amip | Ich erlebe neues Licht

Es war eine anstrengende, gefährliche und kräftezehrende Reise, um Mutter, mein Kind und auch den Clan, in dem ich geboren wurde, zu besuchen, aber neues Licht erfüllt mein Herz, erfüllt mich seither. Meine Vision, dass Mutters Leben bald zu Ende geht, hat sich zur großen Freude des Clan nicht bestätigt. Mutter ist zwar blind, aber gesund und hilft immer noch, wo sie kann. Und sie kann einiges, wie wir feststellen konnten. Es war beeindruckend zu sehen, wie sie ganz alleine, ohne jede Hilfe aus dem Kelutral (Heimatbaum) auf uns zu kam, gleich nachdem wir landen und von Kriegern der Anurai in Empfang genommen werden.

Als ich sehe, wie sie, etwas langsam und mit Bedacht, aber ohne Hilfsmittel auf uns zukommt, bin ich für einen Moment froh, dass sie die Tränen nicht sehen kann,  die mir vor Freude aus den Augen rinnen. Doch als sie zur Begrüßung die Gesichter der Rey'engya befühlt, um jeden "anzusehen" oder "erkennen" zu können, macht sie natürlich auch vor mir nicht Halt. Sofort fragt sie: "Du weinst, mein Kind?"

Auch Sey, Korlan, Neyri und Sey'syu und Ne'wey lassen es über sich ergehen, dass Mutter jeden von uns auf diese Weise begrüßt. Na'rian, die Tsahìk (Clanführerin) und ..... der Olo'eyktan (Clanführer) begrüßen uns freundlich, ja herzlich. Wer meinen Clan kennt weiß, dass dies nicht selbstverständlich ist. Zu oft wurden und werden sie immer wieder in Kriege und Auseinandersetzungen hineingezogen, nur weil wir anders sind.

Erst einen Tag nach unserer Ankunft kommt Maytame, um die Rey'engya, vor allem aber Neyri und mich zu besuchen. Habe ich ein Mädchen zu Mutter gebracht, das etwa halb so groß war, wie ich, treffe ich jetzt auf eine beinahe erwachsene, junge Frau. Augenblicklich kommen mir wieder die Erinnerungen an damals. Ich hatte sie zu Mutter gebracht, um sie zu beschützen. Als es in unserem Land wieder ruhig wurde, holte ich May und ihren damals besten Spielkameraden zu uns, weil ein Kind an der Seite ihrer Eltern aufwachsen sollte.

Durch erneute Angriffe der sawtute (Himmelsmenschen) aber musste ich dann wieder gegen mein Herz und das von Neyri entschieden und die Kinder abermals zu Mutter fliegen. Ich fühle mich immer noch als schlechte Mutter, die unfähig ist, Ihr Kind großzuziehen, obwohl immer alle sagen, dass ich falsch denke und alles richtig gemacht habe. Ich glaube, ich habe egoistisch und nicht zum Wohl meiner Tochter gehandelt, ich habe Neyris Wünsche vielleicht ignoriert und die Maytames ebenfalls, denn ich habe entschieden, ich ganz alleine.

Es kommt mir dennoch vor, wie gestern, als ich sie umarme und sie mich. Wie viele Male ist die Eclipse gekommen und gegangen, seit ich damals zurück nach Hause flog? Ich weiß es nicht. May ist groß und sie ist stark und sie erinnert mich mehr und mehr, je älter sie wird, an Winataron, ihren Vater. Wie sie geht, sich bewegt, vieles erinnert mich an ihn. Selbst in einigen ihrer Gesten wie ihrem Lachen sehe ich ihn in ihr. Ich bin stolz auf sie. Aber sie ist immer noch etwas verspielt, möchte aber zugleich nichts falsch machen und hegt daher oft Zweifel. Und sie ist noch etwas, nämlich verliebt. Rongal heißt er, ein junger, aber mutiger Krieger der Anurai und er scheint sie wohl auch gern zu haben.

Die Tage gehen dahin und obwohl wir nur wenige Tage zu Besuch bleiben wollten, sind es nun viele geworden, in denen wir feierten, erzählten, neue und alte Lieder sangen, Geschichten erzählten und zusahen, wie Maytame einem neuen Leben dabei half, unsere Welt zu betreten. So viel Stolz, so viel Freude habe ich noch nie für sie empfunden, als die schwangere tsmuke (Schwester) sie, bat Ihr bei der Geburt zu helfen. Ich ahnte gleich, dass May wohl wieder an sich zweifeln wird, aber ich ließ sie und siehe da, sie schenkte einem Mädchen den ersten Blick in unsere Welt. Ich sah, wie glücklich, wie stolz  sie war als Nari'an, die Tsahìk (Clanführerin) sie am Abend dafür am Clanfeuer vor allen lobte.

Wie es kommen musste, gab es auch wieder einen Konflikt mit einem Nachbarclan. Sie werden es wohl nie verstehen oder wollen es vielleicht auch gar nicht? Sie glauben immer noch, wir halten uns für bessere Na'vi, weil wir falulukan (Thanatoren) reiten. Jedenfalls begründen sie ihre Angriffe und Überfälle immer wieder damit. Das macht mich traurig, denn auch Sey und die anderen konnten sie offenbar nicht umstimmen, wohl aber vertreiben. Aber für wie lange? Es ist ein ewiger und sinnloser  Krieg, der seit langer Zeit von Generation zu Generation weitergegeben wird...

Der Flug nach Hause war erfüllt von Erinnerungen. Die Geburt, bei der May half, hat ihr Selbstvertrauen gestärkt. Sicher ist daran auch Rongal etwas Schuld. Ich wünsche den beiden, dass Eywa ihnen immer zulächeln möge. May musste als Kind großes Leid ertragen und oft auf ihre Mutter verzichten und ich wünsche mir nichts mehr, als dass sie einen guten Mann findet, vielleicht auch ein Baby bekommt, oder mehrere, und ohne Kriege, ohne sawtute (Himmelsmenschen) und Furcht mit ihrer Familie leben kann. Der ewige Kreislauf möge nie vergehen.

Mutter ist eine sehr starke Frau. Ich glaube, das spürte nicht nur ich sondern auch alle anderen. Sie versprach mir, mich rufen zu lassen, wenn sie einmal ihre geborgte Energie an Eywa zurückgeben muss. Mutter, ich werde da sein, das verspreche ich! Und Neyri wird auch da sein, ich bin sicher.

Als wir an unserem Kelutral (Heimatbaum) ankommen, wird es gleich wieder hektisch. Tsetu kommt uns, wild gestikulierend und rufend entgegen gerannt. So kenne ich ihn gar nicht. Was er uns dann aber zeigt, lässt alle schönen Gedanken in mir verfliegen, denn er führt uns zu einer fremden Frau und einem jungen Mädchen. Die Frau, offenbar die Mutter der Kleinen, ist sehr schwer verletzt. Sie blutet aus großen und zahlreichen Wunden. Es sind unverkennbar Wunden, die von Waffen der sawtute (Himmelsmenschen) stammen. Ich brauche Neyris Hilfe, aber auch Korlan hilft.

Wir drei, vor allem aber Neyri und ich lassen nichts aus, um das Leben der Frau zu retten. Wir machen Verbände mit dicken Tüchern, wir zerkauen viele weiße Wurzeln und tragen den Brei auf ihre Wunden auf, wir geben ihr Torukspawm (Riesenpilz), die ihr die Schmerzen nimmt. Es kostet uns viel Kraft. Wie lange es dauert, weiß ich nicht. Es gelingt nur, die Frau ein einziges mal kurz aufzuwecken. Ich beuge mich über sie und kann kaum verstehen, was sie flüstert. Sie bitte mich um Uturu (Zuflucht) für ihr Kind. Ich verspreche es ihr, dann spüre ich ihren letzten Atemzug und ihren letzten Herzschlag.

Mein Herz wird zu Stein, denn ich erkenne, dass ich dieser Frau nicht zu helfen vermag, ebenso wie Neyri. Ich fühle mich, wie ein Kind, wie eine Schülerin, die gerade mal einen Verband zu wickeln vermag, nicht aber als Heilerin, als Tsahìk und ich befürchte, Neyri fühlt sich auch nicht besser. Wieso hast Du ihr nicht geholfen, Eywa? Diese Frage schallt wieder und wieder durch meinen Kopf.

Die kleine wird Firaya genannt, Sie erzählt nur Bruchstücke von dem, was passierte. Mir fällt immer wieder auf, dass sie etwa so alt ist wie Maytame zu jener Zeit, als ich sie zu Mutter brachte. Warum habe ich das getan? Nun hat Eywa mir wieder ein Kind gebracht, wieder ein Mädchen, das das ich aufnehmen, das ich beschützen und um das ich mich kümmern muss. Sicher sie scheint schlau zu sein und ich finde sie hübsch, aber werde ich es schaffen, sie nun an Maytames Stelle groß zu ziehen?

Zuerst einmal begraben wir Firayas Mutter. Wir wählten für sie einen Ort, da sie sich bei uns nicht auskennt, direkt bei den Stimmenbäumen. Da sie bei uns gestorben ist, begraben wir sie als eine von uns, eine Rey'engya. Auch wenn sie mich nicht wirklich kennt, scheint das Mädchen mich zu mögen. Ich singe für sie, erzähle ihr viel von mir und wiege sie abends am Feuer, wie ich es mit May immer tat. Ob ich ihr sagen soll, dass ich aus diesem Grund nicht ihre neue Mutter sein möchte? Sie wird mich vielleicht dafür hassen und damit könnte ich zurecht kommen. Aber was, wenn sie einfach fort läuft, weil sie sich von mir ausgestoßen fühlt? Was soll ich tun?

Ich spreche Neyri auf dieses Thema an und wir beide kommen zu dem Ergebnis, dass Neyri als Mutter für das Mädchen da sein wird, wenn Firaya es wählt. Sie soll merken, dass sie ebenso frei ist, wie wir. Ein guter Vorschlag von meiner muntxate (Ehefrau). Doch was, wenn sie mich wählt? Ich habe etwas Angst davor...

Als wir sie heute schlafen legen, scheint Firaya erstmals ein wenig glücklich zu sein, denn ihr Mund lächelt, als sie eingeschlafen ist. Nur mir ist gerade nicht zum Lächeln...

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