Sonntag, 10. November 2013

Ali'yara a lu numeyu oeyä / Ali'yara, meine Schülerin

Ayoe iryao si sa'nokur anawm ayoeyä.
(Wir danken unserer großen Mutter.)
Könnte ich ahnen, dass wir heute eines unserer Rituale abhalten werden, würde ich bestimmt statt meiner normalen Kleidung ein etwas festlicheres Gewand anlegen, zumal es, wenn auch nur indirekt, mich selber auch betrifft. Der neue Tag beginnt mit einem sanften Streicheln über meinen Rücken und den geflüsterten Worten: "Ma sa'nuuuuu... Srake nga mi herahaw?" ("Mamiii... Schläfst Du noch?")  Zuerst, noch im Halbschlaf, kann ich mich nicht gegen das Gefühl erwehren, dass es Winatarons Hand ist, die mich so sanft weckt, doch mir wird schnell klar, dass ich mich irre. Es ist meine kleine Jägerin, die mich mit ihren großen, dunklen Augen anschaut. Ihr Lächeln lässt alle meine Gedanken sofort zu ihr wandern. "Srane. Ngar tut?" ("Ja. Und Du??"), frage ich sie, was sie mir mit einem von leisem Kichern untermaltem Nicken bejaht.

Sie ist immer noch ganz fasziniert von ihrem gestrigen Erlebnis bei der großen Mutter, daher lasse ich sie zunächst davon berichten, während ich noch mit ihr auf unserem Lager liege und ihr mit leicht zappelnden Fingerspitzen über den Rücken fahre. Doch dann wollen wir nachschauen, ob wir die anderen vielleicht am Feuer oder irgendwo anders um unsere Höhle herum finden und gehen nach draußen. Da am Feuer niemand aufzufinden ist und es überdies auch auffallend ruhig um uns herum ist, beschließen wir, zuerst zum See zu gehen.

Es ist ein schöner Tag und Maytame beobachtet einige Insekten, schaut sich die Fische im See an und fragt mich schließlich: "Ma sa'nu (Mami), was wollen wir denn heute machen?"  Zunächst habe ich keine besondere Idee und überlege, ihr vielleicht einige Pflanzen zu zeigen oder mit ihr zu den fa'li (Schreckenspferden) zu gehen. Als Ne'wey aber dann bei uns auftaucht, kommt mir plötzlich ein Gedanke: "Ma Ne'wey, kame ngat." ("Nìm'wey, ich sehe Dich."), begrüße ich sie znächst mit dem Zeichen Eywas und frage sie direkt im Anschluss: "Warst Du eigentlich schon einmal im Lager der Maguyuk (befreundeter Nachbarclan)?"

Meine Freundin erwidert den Gruß und antwortet mit dann: "Das ist eine gute Idee, ma tsmuke (Schwester), denn dort war ich bisher noch nie."  Auch Maytame ist voller Tatendrang und stimmt mit heftigem Kopfnicken diesem Vorschlag zu. Obwohl ich sie warne, dass wir dazu durch den tiefen Wald laufen müssen, bleibt sie dabei. Sie gibt mir sogar zu verstehen, dass sie es heute einmal versuchen will, ohne, dass ich sie tragen muss. Doch ich ahne, das daraus wohl nichts werden wird, denn dafür kenne ich sie zu genau. Am Waldrand bittet sie mich dann auch gleich wieder: "Ma sa'nuuuuu...?" ("Mamiiii...?")

Ne'wey trägt derweil meinen Bogen, da Maytames Beine während des Gehens immer wieder kommen. Ich bemerke Ne'weys wachsende Aufmerksamkeit und weiß, dass ich mich ihrem Instinkt und ihrer Beobachtungsgabe voll anvertrauen kann. Nach einiger Zeit kommen wir dann auch ohne Zwischenfälle am Lager unseres befreundeten Clans an. Ich selber sehe das Lager auch jetzt gerade zum ersten mal von hier unten. Als ich es entdeckte, flog ich mit Ya'rrì darüber hinweg. Es war damals, als der große Regen unser Land beinahe vollständig überflutete.

Dann stehen wir vor dem Eingang zum Maguyuk Lager. Inmitten Gruppe etwas höherer Felsen liegt es gut geschützt mitten im dichten Wald. Unter einem weiten Torbogen, der das Wappen unseres befreundeten Clans trägt, warten bereits Korlen und seine Tochter und meine Schülerin, Ali'yara, dass wir näher treten. Sie hatten uns sicher schon bemerkt, als wir uns dem Lager bereits näherten. In dem Moment, da Ali'yara mich begrüßt, kommt mir der Gedanke an das Yerik (hirschähnliches Tier), das sie freudestrahlend mit zu unserem Fest brachte, das wir vor einigen Tagen feierten. Sie berichtete etwas aufgeregt, dass sie es selbst geschossen und den ganzen Weg bis hinauf zu uns getragen hätte. Ich schlug ihr damals vor, dass wir mir ihr unser kleines Ritual abhalten können, wie wir es um Eywa zu ehren, mit jedem Jäger tun, der seine erste Beute alleine schlägt. Doch zunächst lassen wir uns von den beiden das Lager zeigen und setzen uns dann gemeinsam an deren Feuerstelle.

Doch bevor ich den beiden meinen Vorschlag unterbreite, sprechen wir zunächst über einige andere Dinge. Etwas unschön liegt hier, mitten im Lager eine von den großen, metallenen Behältern, wie sie seit der Flutkatastrophe auch überall noch im Fluss und in unserem See umher schwimmen. Ali'yara hatte dieses Ding dazu benutzt, um über die das Lager umrandenden Felsen hinweg spähen zu können. Erfinderisch ist sie ja, das muss ich ihr lassen. 

Maytame hat dann sehr schnell die Höhle der Maguyuk als geeigneten Spielort für sich entdeckt. Sie bittet Korlan, sich dort einmal umsehen zu dürfen und er hatte zugestimmt. So haben wir Gelegenheit, uns etwas zu unterhalten. Nach einigen durchaus interessanten Berichten, in denen wir unter Anderem auch erfahren, dass sich Korlans Ikran (Banshee) nach seiner Verletzung wieder gut erholt hat, ergreife ich dann das Wort, indem ich aufstehe und mich direkt vor meine Schülerin stelle. Ich mache es absichtlich etwas überraschend und auch spannend, indem ich sie zunächst lange Momente nur anschaue. Ich bin gespennt, ob sie erraten kann, was ich von ihr will?


Ali'yara bemerkt meinen nichtssagenden Blick und fragt mich schließlich, ob sie etwas flasch gemacht habe?  Ich aber spiele dieses Spielchen noch einige Momente witer, schaue sie nur an, ohne etwas zu sagen. Nur einmal kurz, als sie es nicht bemerkt, zwinkere ich Korlan zu, der aber offenbar längst ahnt, dass ich nichts schlimmes im Schlde führe. Sie fragt mich noch einmal und nun antworte ich ihr: "Ma numeyu oeyä, zene ngahu oe pivlltxe." ("Meine Schülerin, ich muss mit Dir reden.").

Beide Ohren spitzend wird Ali'yara sehr aufmerksam, als ich ihr dann von dem Ritual erzähle und sie anschließend frage, ob sie das Herz des Yeriks (hirschähnliches Tier) gut aufbewahrt habe?  Nun zeigt sie ein sehr breites Grinsen im Gesicht und läuft sogleich los, um nur wenige Momente später mit einer abgedeckten Holzschale zurück zu kommen: "Das habe ich bewacht, wie meinen kxetse (Schweif)", strahlt sie. Zunächst jedoch wende ich mch Korlan noch einmal zu: "Ma tsmukan (Bruder), ich danke Dir und auch Deiner muntxate (Ehefrau) für das große Vertrauen, dass ihr in mich gesetzt habt, als Ihr dem Wunsch Eurer Tochter zugetimmt habt, dass ich sie ausbilden solle. Daher ist es nun an der Zeit, dass wir diesen wichtigen Schritt in Ali'yaras Leben gemeinsam gehen werden."  Ich erkläre ihm dann auch noch einmal den Hintergrund und Ablauf des Rituals und wende mich dann meiner Schülerin zu:

"Du hast Deine erste Beute ganz allein auf Dich gestellt geschlagen und daher ist es alleine Deine Entscheidung, einen Ort zu wählen, an dem wir der großen Mutter danken werden."  Es dauert zwar einige Momente, doch ich verstehe, dass es der Wunsch eines jeden taronyu (Jägers) ist, einen ganz besonderen Ort auszuwählen. Mein einziger Rat an sie kann daher nur sein: "Wähle einen Ort, der tief in Deinem Gedächtnis und auch in Deinem Herzen verankert bleiben wird. Denn selbst wenn das Herz eines Tages veregangen sein wird, wirst Du Dich immer an diesen besonderen Ort erinnern und ebenso wirst Du auch immer wieder voller Erinnerungen an diesen Ort zurückkehren."  Dann steht Ari'lanas Entscheidung fest und ich bitte sie, uns zu dem gewählten Ort zu führen.
Zunächst geht es durch den Wald und über den Fluss hinüber, bis wir schließlich eine Stelle erreichen, die mir zeigt, dass meine Schülerin eine wirklich gute Wahl getroffen hat. Während Korlan und Ne'wey die Augen nach ungewöhnlichen Dingen offen halten und die Umgebung genau beobachten, hocke ich mich mit Ali'yara hin. Gemeinsam heben wir eine kleine Grube as, die eben groß genug ist, um das Herz aufnehmenzu können. Dann reiche ich der angehenden Jägerin die Schale an und frage sie, ob sie das Herz vorher noch in Blätter einwickeln möchte, was Ali'yara bejaht. Da ich, bevor wir zu den Maguyuk aufbrachen, nicht im Entferntesten an dieses Ritual gedacht habe, habe ich natürlich weder passende Blätter mitgenommen, noch eine etwas feierlichere Kleidung angelegt. Daher bitte ich Ne'wey, dass sie schnell einige von den größeren Blättern für uns sammeln möge. Als sie mit einigen Blättern zurück kommt, legen wir diese auf den Boden, um darin dann das Herz einzuwickeln. Es ist eine besondere Methode, die Blätter miteinander zu verweben, sodass man keine weiteren Hilfsmttel dafür benötigt. Ich reiche meiner Schülerin das Päckchen und spreche, während sie es in die Erdmulde legt, einige Worte:
"Ma oeyä numeyu sì 'eylan alu Ali'yara.(Ali'yara, meine Schülerin und Freundin.). Dir ist ein großer Schritt gelungen, der Dich Deinem Ziel, eine stolze taronyu (Jägerin) der Maguyuk zu werden, näher gebracht hat. Es ist ein großer Moment für einen jeden Jäger..." und dabei erinnere ich mich daran zurück, als ich mein erstes Yerik (hirschähnliches Tier) erlegte, "wenn er seinen Pfeil von der Sehne schnellen lässt und dieser dann zum ersten mal zielsicher seinen Bestimmungsort erreicht. Diesen Moment sollst und wirst Du nie mehr in Deinem Leben vergessen. Um dies zu unterstützen und auch, um der großen Mutter zu danken, sind wir heute hier an diesen Ort gekommen, den Du selber gewählt hast. Eywa lenkte Deine Hand, sie führte Deinen Pfeil und nun wollen wir ihr etwas von dem zurück geben, dass sie Dir und uns gab."  Während ich diese Worte spreche, klopfen wir beide leicht die Erde fest, mit der wir das Herz bedeckt haben. Ich schaue Ali'yara an und fahre dann fort: "Du siehst einen glücklichen sempul (Vater) an Deiner Seite stehen und eine ebenso glückliche und stolze karyu (Lehrein) und ich danke Dir, dass ich Deinen Weg bis hier her begleiten durfte und gemeinsam werden wir auch den schwierigsten Teil Deiner Ausbildung noch hinter uns bringen."  Dann erhebe ich mich, um mich mit dem Zeichen Eywas vor ihr zu verneigen: "Möge Eywa Dich auch auf dem noch vor Dir liegenden Pfad Deiner Ausbildung sicher führen und Dich beschützen, ma Ali'yara."

Glücklich schaut sie mich an und bedankt sich dann bei der großen Mutter mit einigen Worten, ehe auch sie dann aufsteht, um ihrem sempu (Papa)  vor Freude um den Hals zu fallen. Korlan ist ebenfalls sehr stolz auf seine Tochter und richtet einige Worte an sie, vergißt dabei aber auch nicht, mich und alle die anderen zu erwähnen. die ihren Teil zu Ali'yaras bisheriger Ausbildung beigetragen haben. Dann holt er etwas hervor, das er bisher gut verborgen bei sich geführt hat. Es ist ein Messer. Er überreicht es seiner Tochter mit stolzem Blick und richtet dazu noch einige ganz persönliche Worte an sie. Wieder muss ich einen kurzen Gedanken an meine Tochter wegwischen, die so etwas niemals wird erleben können...

Da die Sonnenstrahlen inzwischen nicht mehr vollständig den Waldboden erreichen können, beschließen wir, den Heimweg anzutreten. Wieder sichern Korlan und Ne'wey unseren Weg. Als wir am Lager der Maguyuk eintreffen, hören wir Maytame aus der Höhle kichern. Ich schaue sogleich nach ihr und muss lachen, da sie eine Hängeatte,  es ist offenbar Korlans Schlafplatz, für sich zum spielen gefunden hat. "Die sind viiiiel schöner als unsere Schlafplätze.", meint sie etwas spöttisch zu mir. Korlan, der dies ebenso mitbekommen hat, muss lachen und Ali'yara schlägt vor: "Na, wenn Du magst und Deine sa'nu (Mami) es erleubt, dann schlafe doch heute nacht bei uns."  Maytame wartet gar nicht erst auf Korlans und meine Zustimmung, sie jubelt vor Freude. So lasse ich es geschehen. Es kommt mir sogar etwas gelegen, denn ich möchte Ne'wey noch etwas, wie ich finde, sehr persönliches und auch für mich sehr wichtiges sagen. Korlan schlägt dann vor, dass Tac'ìri, seine muntxate (Ehefrau) Maytame ja bei Anbruch es neuen Tages zu uns zurückbringen könne.

So ist es entschieden. Maytame ist überglücklich, Ali'yara strahlt auch, denn sie mag die kleine wohl auch sehr. Und ich?  Ich habe Zeit, einmal ganz alleine mit Ne'wey über etwas wichtiges zu sprechen. So verabschieden wir uns dann und treten den Weg zurück zu unserer Höhle an. Wir beeilen uns jedoch, da nach wie vor die Fährte von Nantangs (Natterwölfen) deutlich in der Luft liegt, auch wenn niemand von uns sie gesehen hat. Wir wissen, sie sind dort draußen...

Da Ne'wey etwas müde ist, als wir unser Ziel erreicht haben, bin ich ihr umso dankbarer, dass sie mir noch einige Momente schenkt. Unser Gespräch wird sehr persönlich und ich sage ihr all das, was ich ihr schon seit längerer Zeit einmal sagen wollte. Sie hört mir sehr aufmerksam zu und als ich dann mit den Worten: "Dies alles liegt mir schon sehr lange auf dem Herzen, ma tsmuke (Schwester) und es war mein Wunsch, dass Du es erfahren solltest."

Ne'weys Antwort ist genau überlegt und ebenso offen, wie ich es von ihr nicht anders erwartet habe. Ich bin froh, dass sie mich versteht, auch wenn sie nicht alles, was ich sagte, mit mir teilen mag oder kann. Doch eines erklärt sie mir und damit beantwortet sie mir eine Frage, die ich ihr vor längerer Zeit einmal stellte. Sie erklärt, und mehr Worte sind nicht nötig, damit ich es verstehe: "Ma tsmuke (Schwester), wenn die Zeit gekommen ist und es geschehen sollte, werde ich Dein letzter Schatten sein."

Noch lange hallen diese Worte in mir nach, als wir schon lange auf unseren Schlafplätzen liegen: "Ma tsmuke (Schwester), Ich werde Dein letzter Schatten sein."  Mit Gedanken an den Clan, der für mich eine wirklich wundervolle Familie ist, an eine Schülerin, an meine Tochter und an eine Freundin, der ich jederzeit mein Leben anvertraue, schlafe ich dann ein...



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