Samstag, 13. Mai 2017

'awnstengyolem nìmun / Wieder vereint

'awnstengyolem nìmun
(Wieder vereint)




An diesem Morgen bin ich schon sehr früh auf den Beinen, will ich doch noch einige besondere Kräuter und Knollen sammeln, die wir für das bevorstehende Clanfest benötigen.
Nachdem ich die Höhle verlasse, schaue ich zunächst nach dem Clanfeuer. Das leise Knistern der Glut und das dunkel orangefarbene Flackern zeugen davon, dass noch jemand Holz nachgelegt haben muss, bevor er es über die Nacht hinweg sich selbst überlassen hat.
Entgegen meiner ursprünglichen Entscheidung gehe ich zum hinteren Ausgang der Höhle, in der sich die ylltxep (Feuerstelle des Clans)  befindet und steige den schmalen Weg hinauf, um eine Weile lang den gerade anbrechenden, neuen Tag zu beobachten.




Weit entfernt beobachte ich mit Ehrfurcht, wie mesoruk (zwei Toruks/letzter Schatten)  ihre Kreise ziehen. Seit einiger Zeit sehen wir sie wieder öfter und hin und wieder sind es auch nicht nur einzelne Tiere. Ob diese beiden wohl gerade ihre Reviere gegeneinander abstecken?
Doch ich muss los. Noch bevor die tagaktiven Tiere erwachen, muss ich einige Dinge besorgt haben. So mache ich mich auf den Weg, gehe zunächst zum See, den ich überquere, und komme schließlich an einer kleinen fa'li (Schreckenspferde)  Herde vorbei. Es scheint sich um eine kleine Familie zu handeln, denn außer den beiden erwachsenen Tieren sehe ich zwei Jungtiere. Sie kümmern sich nicht um mich und ich schleiche in einem bewusst groß gewählten Abstand an ihnen vorbei.

Der Wald wird dichter und ich lausche nach verdächtigen Geräuschen. Der Ruf eines 'angtsìk (Hammerkopf) erreicht meine Ohren, weshalb ich beschließe, eine andere Richtung einzuschlagen. Mein Weg führt mich schließlich zu einer Stelle, an der ich die gesuchten, dunklen Knollen finde. Vorsichtig grabe ich ein paar von ihnen aus immer darauf bedacht, die daneben wachsenden Pflanzen nicht zu beschädigen. Nun fehlen mir nur noch diese gelblichen Kräuter...

Ich schleiche weiter, folge meinem Instinkt, versuche dabei aber keine Spuren zu übersehen, die mir einen möglichen Feind anzeigen würden. Wieder und wieder lausche ich, doch der Wald ist still - Etwas zu still, wie ich bemerke. Mir kommen unweigerlich Gedanken an die sawtute (Himmelsmenschen). Wenn der Wald still ist, ist es oft, weil sie irgendetwas getan haben, das die Tiere verscheucht. Doch ich kann nichts darauf hin deutendes entdecken. 

An einer Stelle, an der der Wald nicht ganz so dicht bewachsen ist, finde ich schließlich die gesuchten Kräuter. Sie werden im Clan gerne dazu benutzt, um gebratenem Fleisch einen besonderen, leicht herben Geschmack zu verleihen. Da ich nun alles habe, was ich brauche, trete ich den Weg zurück ins Lager an. Eher zufällig finde ich noch einige der roten und sehr scharfen Schoten, die Sey gern zum Würzen von Fleisch benutzt. Ich muss an Txavitx (David) zurück denken, als er zum ersten Mal ein kleines Stück einer solchen Schote von Sey angeboten bekam und sie mutig aß. Niemals werde ich vergessen, wie er einige Momente lang um sein Leben bangte, da er unter seienr Maske kaum atmen konnte. 

Ich komme wieder an den fa'lì (Schreckenspferden) vorbei und mein Blick fällt auf das gegenüberliegende Ufer des Sees. Ich sehe einige Gestalten dort stehen, sowie in etwas Abstand zu der Gruppe einen Ikran (Banshee), den ich noch niemals zuvor gesehen habe. Neugierig überquere ich den See und erkenne dann eine Getalt, die deutlich kleiner ist, als alle anderen. Ich sehe Sey, erkenne Neyri und auch den offenbaren Besitzer des fremden Irans. Dann bricht in mir ein Sturm aus Gefühlen los, als mein Unterbewusstsein viel eher als meine Augen die kleine Person erkennen. Ich spüre Verwunderung, ich fühle Liebe, spüre Traurigkeit und Freude zugleich und ich empfinde Wut und Hass. Letzteres gilt jedoch mir selber, denn es ist mein eigenes Kind, Maytame, die dort am Seeufer steht und etwas unsicher von einem auf das andere Bein wippt. Ist es nur wieder ein Streich meines Unterbewusstseins, das mir Bilder vortäuscht, die aus meinem Herzen kommen, nicht aber der Realität entstammen? Ist es wieder mal nur der Wunsch, mein Kind wiederzusehen, den ich schon seit einiger Zeit wieder deutlich in mir spüre? Oder ist das, was ich dort gerade sehe, wirklich real?

Im nächsten Moment umschlingen mich zwei Arme und eine mir nur allzu vertraute, kindliche Stimme sagt: "Tolätxaw oe nìmun, ma sa'nu.
("Ich bin wieder zurück gekehrt, Mama."). Dass mir mein gefüllter Sammelbeutel  aus der Hand gleitet, erfahre ich erst später von Korlan, da ich selber es gar nicht bemerke.  Meine Knie zittern, ich spüre, wie meine Beine unter dem Gewicht meines Körpers nachgeben wollen. Geschieht all dies gerade wirklich?

Fassungslos bekomme ich zunächst keinen Ton heraus. Irgendwie fühlt es sich irreal an, zugleich aber auch sehr real. Mein Kind umarmt mich wirklich. Sie steht vor mir. Nein, das ist kein Traum, keine Vision, kein Wunsch. Ein Lächeln in Korlans Gesicht verrät mir, dass er mir meine Unsicherheit und dass ich vollkommen überrascht bin, klar ansehen kann. Ich schließe May in meine Arme und muss dabei aufpassen, sie vor lauter Freude nicht zu verletzen.

Teya, wie man ihn ruft, hatte sich der Gruppe bereits vorgestellt. Er kommt auf uns beide zu und verneigt sich respektvoll vor mir. Innerlich muss ich kichern, denn er spricht sehr förmlich zu mir in einem Tonfall, der so im Clan nur selten benutzt wird. Er erklärt mir, dass May schon seit langer Zeit in Mutters Clan immer wieder darum gebeten, ja gefleht hatte, zu mir zurückkehren zu dürfen. Schließlich habe Mutter dem Wunsch nachgegeben und er, Teya, habe sich freiwillig dazu bereit erklärt, diese lange Reise mit ihr zu unternehmen, obgleich er erst kürzlich sein Iknimaya (Prüfung für junge Na'vi) erfolgreich beendet hätte.

Meine Frage, weshalb er dieses doch nicht gerade kleine Risiko auf sich genommen habe, beantwortet er mit den Worten: "Ma Tsahìk anawm Rey'engyayä (ehrwürdige Clanführrin der Rey'engya), ich hörte viele Geschichten über Dich, Euren Clan und ich kenne Deine Tochter sehr lange. Ich wollte Dich persönlich kennen lernen, ich wollte sehen, wie Dein Clan lebt und auch an welchem Ort. So bat ich unsere Tsahìk (Clanführerin) darum, mir diesen Wunsch zu erfüllen."

Er erzählt mir mit einem Leuchten in seinen Augen Dinge, die er nur von Mutter oder May wissen kann. Erst nach einiger Zeit erkenne ich in Teya dann den Sohn einer Jägerfamilie des Weytana Clans (Kxìryas Elternclan). Er war noch sehr jung, als ich ihn das letzte mal sah, etwas in Mays jetzigem Alter. Während wir miteinander reden, kommen auch Korlan und Sey'syu zu unserer Gruppe dazu. Er ist sehr an Teya interessiert und spricht lange mit ihm.

Immer wieder schießen mir Gedanken durch den Kopf und immer noch kommen mir Zweifel, ob dies alles hier wirklich gerade geschieht, aber innerlich empfinde ich eine sehr große Freude. Doch auch stellen sich mir wieder Fragen. Wird Neyri Maytame als ihre Schwester akzeptieren? Wird Maytame, wenn sie davon erfährt, dass ich Neyri als Tochter angenommen habe, dies verstehen und ebenso akzeptieren? Wird es mir gelingen, beiden eine gute sa'nok (Mutter) zu sein? Werde ich, ohne es zu wollen oder es steuern zu können, gegen meinen Willen eine von den beiden vorziehen?
Beyda würde sicherlich jetzt schmunzeln und mir sagen, ich soll mir nicht immer so viele Gedanken machen und sicher hat er Recht, doch andererseits ist er niemals sa'nok (Mutter) und Tsahìk (spirituelle Clanführerin) zugleich gewesen... 



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