Samstag, 13. Mai 2017

'evengan amip alu Ryatxi Relu polähem ayoerne / Ein neuer Junge Namens Ryatxi Relu kommt zu uns

'evengan amip alu Ryatxi Relu polähem ayoerne
(Ein kleiner Junge Namens Ryatxi Relu kommt zu uns)

Fra'u latem (Alles ändert sich). Seit Maytame wieder zurück im Clan ist, erscheint mir jeder Tag als etwas ganz besonderes. Mehr und mehr erkenne ich, dass das Clanleben sich verändert. Es erscheint mir, als sei sie der Auslöser dafür, dass viele Dinge wieder in anderen, geordneteren Bahnen verlaufen. In Bahnen, die der Clan lange Zeit vernachlässigt, ja vielleicht sogar verdrängt hatte. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Maytame irgendjemanden etwas fragt, sich etwas wünscht, oder auch einfach nur durch ihre bloße Anwesenheit, mit dem Geist und Tatendrang eines Kindes dem Clanleben eine völlig neue, irgendwie unbeschwerte Struktur gibt. Auch in mir verändert sich vieles und es ist gut so.

Ohne es vorausahnen zu können, wird dieser Tag heute jedoch wieder eine Wende innerhalb des Clans bedeuten - Vielleicht eine sehr große Wende. Am Clanfeuer geht es schon am Morgen recht lebhaft zu. Neyri und May unterhalten sich am utral ayäie (Baum der Visionen). Dies zeigt allen, dass es sich um ein sehr persönliches Gespräch handeln muss, bei dem die beiden alleine sein wollen. Ich ahne, worüber die beiden vielleicht reden, deshalb lasse ich sie zunächst aus den Augen. Neyri wird May sicherlich von ihrer Vergangenheit erzählen, wie sie von den sawtute (Himmelsmenschen)  bereits als kleines Kind gefangen gehalten, gefoltert und beschimpft wurde. Sie wird May von ihrer Flucht erzählen und wie sie unsere Sprache lernen musste, da es ihr ja niemand beigebracht hatte. May muss und wird diese Dinge ohnehin einmal erfahren, weshalb also nicht aus Neyris Mund?

So wende ich mich wieder dem Clangeschehen zu. Die Vorbereitungen für das Fest werden von allen tatkräftig unterstützt und ich bemerke, dass wohl der gesamte Clan der Rey'engya dieses, wenn auch nur kleine Fest zu etwas ganz besonderem machen will, denn schließlich haben wir ja nun gewissermaßen einen ganz besonderen Grund zu feiern. Ich bemerke besonders bei Sey eine innere Freude und zugleich Ruhe, seit May wieder im Clan ist. Er wirkt ausgeglichener und jedes Mal, wenn May ihn bittet, mit ihm zu spielen oder einfach nur wenn sie ihn in seinen Bauch knufft, glaube ich spüren zu können, dass er vielleicht Tsìlpey, seine eigene Tochter, vor sich sieht, die nun schon lange bei Eywa ist.

Aufregung unterbricht dann die morgenttiche Ruhe, denn ein Ikran (Bansheelandet auf dem Kampfplatz und ich höre an dessen Rufen, dass es Korlan´s Ikran sein muss. Korlan erscheint dann auch am Feuer, aber er ist zu unserer großen Verwunderung nicht alleine. Neben ihm kommt ein kleiner Junge mit tappsigen Schritten her gelaufen und ich bemerke sofort, dass dieser recht verwegen zu sein scheint und möglicherweise auch etwas vorlaut, denn anstatt eines Grußes, tappst er zwischen uns allen hindurch, wie ein Krieger und tritt direkt vor unser ylltxep (Feuerstelle des Clans). Er scheint uns alle zu ignorieren und lässt sich, ohne dass es ihm jemand erlaubt, sogar auf eines unserer Felle plumpsen. So etwas ist mir ja schon lange nicht mehr passiert, aber ich muss mir dennoch ein Grinsen verkneifen, denn irgendwie wirkt er nicht nur lausbubenhaft, sondern auch offen. Ich erkenne, auch ohne ihn jemals zuvor gesehen zu haben, dass er aus einem ganz bestimmten Grund hier ist. Diesen jedoch soll er mir selbst vortragen...

So schaue ich ihn, wenngleich auch gespielt, sehr ernst an und frage ihn forsch, ob man ihm denn noch nicht beigebracht hätte, wie man sich gegenüber fremden Erwachsenen und besonders einer Tsahìk (spirituelle Clanführerin) verhält, die man noch nie zuvor gesehen hat. Meine Worte scheinen ihn einzuschüchtern, denn er springt sofort auf und begrüßt mich und dann die anderen, erklärt aber, dass er das noch nciht von seinen Eltern gelernt habe. Da diese Frage vermutlich alle beschäftigt, wende ich mich an Korlan und frage ihn, wo er ihn denn aufgefunden hat. Korlan berichtt uns dann, dass ein Flieger der Weytana (Kxìryas Elternclan) mit ihm geflogen kam, ihn aber fälschlicherweise am Lager der Maguyuk abgesetzt hatte, statt bei uns. Zum Glück war Korlan gerade dort, um nach seinem Ikran zu sehen, der vor einiger Zeit erkrankt war. 

Ryatxi, wie man ihn nennt, erzählt uns dann, dass Maytame und er immer in Mutters Clan miteinander gespielt hätten und dass Ryatxis Eltern seit einiger Zeit verschollen seien, da sie von einer Jagd nicht wieder zurück kehrten. Ich verstehe sofort, was in dem Jungen vorzugehen scheint. Ich verstehe seine Sorge und auch seinen Wunsch, May zu folgen. Auch wenn es ihm in Mutters Clan bestimmt an nichts fehlte, ich verstehe ihn. Wie oft hatte ich den Wunsch, zu May zu fliegen? Wie oft wollte ich sie zurück holen? Wie oft musste ich einsehen, dass es nicht der richtige Zeitpunkt ist? Wie oft habe ich nachts Bilder von ihr vor mir gesehen und geweint? Wie oft beschimpfte ich mich insgeheim, eine schlechte sa'nok (Mutter) zu sein?

Also erlaube ich es Ryatxi und May, dass sie sich erst einmal begrüßen. Sie umarmen sich und ich muss zugeben, dass mein Herz etwas schwer in meiner Brust wird, als ich die beiden so beobachte. Bereits in diesem Moment habe ich für mich eine Entscheidung getroffen: Sollte sich die Frage stellen, ob Ryatxi bei uns bleiben darf, werde ich es ihm nicht verbieten. Dennoch werde ich, wie immer in solchen Fällen, meine Entscheidung der von Sey unterstellen und mir auch die Meinungen der anderen Rey'engya anhören.

Über eines bin ich mir aber schon jetzt im Klaren: Auch wenn Neyri bereits beinahe erwachsen ist und die Gebräuche des Clans genau kennt und beherzigt und wenn Sey'Syu und sie mich nach Kräften bei der Erziehung Maytames unterstützen werden, werden wir für Ryatxi eine andere Bezugsperson als mich wählen müssen. Er soll, sollte es dazu kommen, eine ebenso gute Erziehung und später auch Ausbildung bekommen, wie ein jeder Rey'engya und dazu fehlt mir wahrlich die Zeit.

Rxatyi erzählt uns dann seine Geschichte und ich bemerke die Ähnlichkeit zu seinem sempul (Vater), der mich in meiner Kinderzeit oftmals wegen meines zu langen Schweifes hänselte. Nun, wir wurden erwachsen und ich trage es ihm nicht mehr nach. Viel mehr macht es mich traurig, dass er und seine muntxate (Ehefrau) nun verschwunden sind und dass dieser kleine Junge, der da nun vor uns steht, nun zunächst ohne sa'sem (Eltern) aufwachsen muss. Ich denke an Neyri und das, was sie erlebt hat, sehe Sey'syu, wie wir sie einst, eingesperrt in dieser Höhle, halb verhungert, vorfanden und mein Entschluss steht fest. Sollte Eywa es so für Ryatxi geplant haben, werden wir ihm eine neue Heimat, einen neuen Clan und vielleicht auch eine neue Familie geben. Vor allem aber werde ich dafür kämpfen, die beiden so gut es mir möglich ist, von den sawtute (Himmelsmenschen) fern zu halten.

Der Tag neigt sich seinem Ende zu und ich erkläre May, dass es Zeit wird, in die Höhle zu gehen, um zu schlafen. Ryatxi läuft in seiner vorlauten, aber auch irgendwie liebenswerten  Art meiner Tochter hinterher und so ermahne ich die beiden, auf mich zu warten. Das  scheint dem kleinen Jäger nicht sehr zu gefallen. Doch ich bin sicher, er wird sich daran gewöhnen, denn es ist der Weg unseres Clans. Ich trage May nach oben und erlaube Ryatxi, sich in eine Hängematte direkt neben meiner Tochter zum Schlafen hinzulegen. Ich selbst setze mich zu den beiden und singe ihnen Mays Lieblingslied vor, bis sie eingeschlafen sind. Müde lege ich mich zu den beiden und beobachte sie noch eine Weile lang.

Bevor sich einschlafe, kommt mir ein Gedanke, der mich schmunzeln lässt:
Das Clanleben dürfte nun noch lebhafter werden...

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