Dienstag, 27. August 2013

Seysyu / Seysyu Oeyä tsmuke amip rou lu / Unsere neue Schwester ist betrunken

Ayoeyä tsmuke amip alu Seysyu rou lu.
(Seysyu, unsere neue Schwester ist betrunken.)

Maytame weckt mich auf, indem sie mit ihren kleinen Händen nach meinen Fingern greift und dazu leise vor sich hin brabbelt. Ich lächle sie an und küsse sie sanft und liebevoll auf die Stirn: "Txon rewon ma tanhìtsyìp oeyä. Srake hamahaw nìmwey?" ("Guten Morgen, mein Sternchen. Hast Du gut geschlafen?") flüstere ich ihr zu. Zwei große, dunkle Augen strahlen mich an und wieder einmal sehe ich die Augen meines Winatarons, meines muntxatan (Ehemannes) in ihnen. Ich füttere Maytame und gehe dann mit ihr zum See hinunter, um einige Kräuter und Pflanzen für neue Heilmittel zu sammeln. Die Kleine quiekt und brabbelt und manchmal glaube ich in ihren Lauten so etwas wie Wortfetzen hören zu können. Aber ich glaube, ich bilde mir das nur ein, denn zum Sprechen ist sie ja noch viel zu klein.

Am See nehme ich mir dann nach getaner Arbeit etwas Zeit für mein Kind. Sie in den Armen haltend, setze ich mich ins hohe Gras und erzähle ihr, was mir gerade so einfällt. Als am Himmel krächzend einige ayfkio (Pelikane) über uns hinweg ziehen, schaut mein kleines Mädchen ihnen interessiert nach und versucht nach ihnen zu greifen. Es ist schön, mitanzusehen, wie sie jeden Tag Fortschritte macht und dass sie ebenso oft etwas neues entdeckt. Doch dann muss ich zurück ins Lager, denn die Kräuter müssen frisch verarbeitet werden, damit die Heilmittel ihre bestmögliche Wirkung entfalten können. Während des Rückmarsches schläft die Kleine dann ein und ich beschließe, sie hinzulegen. So habe ich die Hände frei und kann in Ruhe meiner Arbeit nachgehen.

Am Feuer treffe ich auf Seysyu, unsere neue Schwester. Sie macht auf mich den Eindruck, als sei sie noch nicht so ganz wach und als sie, offenbar etwas abwesend, ins Feuer schaut, erkläre ich ihr nach einer kurzen Begrüßung, weshalb wir darauf bedacht sind, dass unser Feuer niemals erlischt: "Ein Feuer, das immer brennt verrät etwaigen Besuchern, dass der Clan eine Einheit bildet und es strahlt dessen Stärke nach außen hin ab.", erläutere ich ihr.

Da ich mit den Pflanzen noch einiges zu tun habe, bitte ich Seysyu daher, am nahen Waldrand etwas Nachschub an Feuerholz zu holen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass sie, zumindest im ersten Moment, über meinem Vorschlag alles andere als erfreut ist. Doch sie geht dann schließlich doch und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie irgendetwas plant... Nur was...?

Seysyu und Dallan begrüßen sich noch kurz im Vorübergehen, als er ebenfalls zu uns ans Feuer kommt, dann ist sie in Richtung Waldrand verschwunden. Als sie dann einige Zeit später wieder im Lager erscheint, bin ich zunächst sehr fassungslos. Sie zeigt stolz auf ein Stückchen Holz, das nicht größer ist, als einer meiner Finger und berichtet mit ebensolchem Ausdruck fröhlich: "Ma Kxìrya, das war alles, was ich finden und tragen konnte."  Im ersten Moment frage ich mich, ob sie wirklich so faul ist, wie es gerade den Anschein hat?  Doch ich sage zunächst nichts, denn mir kommt die Idee, dass sie sich nur einen Spaß mit mir machen will.

Ein Klopfen an unseren Torbogen unterbricht uns dann plötzlich und ich gehe, gefolgt von Dallan, nachschauen. Tessy steht vor uns und wir begrüßen uns. Doch mir fällt etwas auf, als ich kurz zur Seite sehe. Ich erblicke, gut verborgen im hohen Gras, einen großen Stapel Holz, der vorhin noch nicht dort lag. "Seysyu!", schießt es mir durch den Kopf. Sie muss es hier abgelegt haben, um mich mit dem kleinen Holzstück etwas aufzuziehen. Spontan habe ich die Idee, diesen Spaß mitzuspielen und ihr auch einen kleinen Streich zu spielen. Wie lange habe ich so etwas schon nicht mehr erlebt? Es sind einfach zu viele Dinge geschehen, die solche Späße nicht wirklich zugelassen haben.

Ich schnappe mir das Holz und gehe zurück zu Seysyu. "Schau mal, was ich dort hinten gefunden habe!", berichte ich ihr mit gespieltem Stolz. Seysyu schaut mich mit großen Augen an und ich muss mir ein Lachen verkneifen. Sie gibt dann aber zu, dass sie das Holz dort abgelegt hat und ich erkläre ihr, dass ich ihr dafür sehr dankbar bin und sie mit einer kleinen Überraschung belohnen werde. Das Thema wechselnd bitte ich sie, mit mir zu Dallan und Tessy zu kommen. Da Tessy nun mal keinen Zugang zu unserem Lager hat, werden wir uns heute eben hier miteinander unterhalten und auch etwas essen.

Wir bringen frisch gebratenes Fleisch, Gewürze, Kräuter und natürlich etwas von dem Saft, den ich neulich erst gemacht hatte und der inzwischen fertig gegoren sein dürfte, zum Torbogen und lassen uns dort nieder. Seysyu scheint großen Hunger zu haben und noch größeren Durst. Großzügig schenke ich ihr einen halben Becher unseres Saftes ein, denn ich weiß sie stark er sein kann. Doch wenn man ihn Schluck für Schluck trinkt, sollte es für unsere neue Schwester eigentlich kein Problem sein...

Doch Seysyu trinkt ihren Saft in einem Zug aus, was ich beinahe schon vorhergesehen hatte. Es dauert dann auch gar nicht lange, bis sie anfängt zu taumeln und schließlich fällt sie etwas lallend um. Sie hält sich den Bauch und ihr scheint es übel zu werden. Tessy, Dallan und auch ich können uns ein Grinsen nicht verkneifen. Es dauert eine ganze Weile, bis Seysyu dann von dem Busch zurück zu uns gewankt kommt, in dem sie einige Zeit lang verschwunden war.

Tessy und Dallan verabschieden sich und auch ich mache mich schließlich auf den Weg in die Höhle, um nach Maytame, meinem kleinen Liebling zu schauen. Seysyu lasse ich dort liegen, wo sie eingeschlafen ist. Sie ist nicht mehr imstande laufen zu können und hier ist sie ja auch sicher aufgehoben. Sie wird morgen früh deutlich spüren, was sie eben falsch gemacht hat. Aber ich beschließe, ein Mittel für sie vorzubereiten, das ihr morgen die Schmerzen schnell nehmen wird. Ich will sie nicht unnötig leiden lassen. Sie ist noch jung und muss ihre Erfahrungen sammeln. Doch ich bin zuversichtlich, dass sie die Rey'engya noch tatkräftig unterstützen wird.

Maytame ist, als ich zu ihr komme, wohl gerade aufgewacht und so spiele ich etwas mit ihr, obwohl ich inzwischen auch sehr müde geworden bin. Aber sie hat es verdient, dass sa'nu (Mama) ihr auch ihren Teil der Zeit widmet. Ich glaube sie bemerkt, obwohl sie noch sehr klein ist, dass bei uns etwas oder besser jemand fehlt. Jemand, den ich sehr liebe und den ich auch mit jedem Tag mehr vermisse, "Ma Wina. Pesengit tok ngal?" ("Wina, wo bist Du?"), frage ich mich im Stillen.

Als ich Maytame dann in meine Arme schließe, erzähle ich ihr leise noch etwas, bis sie dann irgendwann eingeschlafen ist. Bevor ich dann meine Augen ebenfalls schließe, spreche ich noch ein Gebet zu Eywa. "Möge die große Mutter alle Rey'engya, gleich wo sie auch immer sein mögen, beschützen und sie eines Tages wieder zusammen führen."

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