Dienstag, 17. Dezember 2013

Eywa plltxe pxengaru / Eywa spricht zu uns

Tsìk stawm oel mokrit Txuratxanä.
(Plötzlich höre ich Txuratxans Stimme.)

Irgendwie habe ich bereits, seit ich eben aufwache, so ein merkwürdiges, unbestimmtes und unbeschreibbares Gefühl. Irgendetwas ist passiert oder wird geschehen. Wenn ich nur wüsste, was es ist...?  Es beginnt schon damit, dass unser Lager wie ausgestorben zu sein scheint. Nur Maytame und ich wachen in der Höhle gemeinsam auf. Von den anderen ist nichts zu sehen und zu hören. Daher beschließe ich zunächst, mit der kleinen etwas zu spielen. Sie hat immer noch großen Spaß an Seysyus Kugelspiel und mir gefällt es auch, denn es bieten sich unzählig viele Möglichkeiten, den Weg, den die Kugeln beim Herunterrollen beschreiben, zu beeinflussen. So verwundert es mich nicht, dass Maytame noch in der Höhle bleibt, um etwas neues auszuprobieren, während ich zum Feuer gehe um dort nach den anderen zu schauen.

Doch auch an der ylltxep (Feuerstelle) finde ich, bis auf Seysyu, niemanden. Sie ist gerade damit beschäftigt, die Übungen, die ich ihr mit dem Messer zeigte, zu trainieren. Ich begrüße sie nur mit einem freundlichen Nicken, um sie nicht abzulenken und beobachte sie dann eine geraume Zeit. Sie macht das schon recht gut und ich bin sicher, ihre Bewegungen werden in gar nicht allzu ferner Zeit viel flüssiger und geschmeidiger werden.

Als Seysyu dann ihr Training beendet hat, begrüßen wir uns nochmals und sie bittet mich dann, sie zum vitra utral (Baum der Seelen) zu begleiten. Sie möchte dort versuchen, etwas von ihren verstorbenen Eltern zu hören. Natürlich erfülle ich ihr diesen Wunsch. Wenn ich ahnen könnte, was ich dort, bei Eywa, gleich sehen, hören und fühlen werde, ich würde es wohl lieber verschieben wollen...

Wir machen uns also auf den Weg, gehen den Hang bis zum See hinunter und biegen dann in Richtung Wald ab. Als ich dann aus den Augenwinkeln glaube, eine schattenhafte Bewegung wahrgenommen zu haben, greife ich instinktiv nach dem Griff meines Messers. Doch ich sehe nichts und auch meine Nase nimmt nichts ungewöhnliches wahr. Ich deute Seysyu an, sich hinter mir zu halten und werde sehr wachsam, beobachte jeden Grashalm und achte auf jedes noch so kleine Geräusch.

Dann aber wittere ich etwas. Es ist Seys Fährte, die mir, obgleich schwach, dafür aber unverkennbar in meine Nase dringt. Ich muss lachen und begrüße ihn: "Kame ngat, ma olo'eyktan." ("Ich sehe Dich, Clanführer."). Zunächst hält Sey sich noch verborgen. Als er dann aber mit einem weiten Sprung auf mich zu kommt, müssen wir alle drei lachen. "Dafür, ma Sey, kennen wir uns zu lange." lächle ich ihn an. "Und haben zu viel gemeinsam erlebt und durchgemacht."  Er lacht mich offen an und kommt dann unserer Bitte, uns zum vitra utral (Baum der Seelen) zu begleiten, nach.

Dort angekommen, verbeugen wir drei uns vor der großen Mutter, legen unsere Waffen ab und ich bedeute Seysyu mit einer Geste, dass sie mir zum Baum folgen soll. Sey setzt sich etwas abseits von uns auf einen kleinen Felsvorsprung. Dieses unbestimmte Gefühl in mir verstärkt sich und mein Herz beginnt zu pochen, als ich mich mit den Tentakeln des Baumes verbinde. Aber weshalb?  Ich bin oft hier an diesem Ort der Stille und genieße es, auch wenn die große Mutter mir nicht immer das zeigt, was ich mir vielleicht erhoffe. Ich weiß, dass alles richtig ist, was sie tut. Dennoch verspüre ich diese merkwürdige Spannung in mir.

Auch Seysyu verbindet sich mit dem Baum und bereits nach kurzer Zeit spüren wir dieses Gefühl des Willkommenseins, diese Geborgenheit und Wärme, die Eywa an uns ausstrahlt. Das Licht der Tentakeln beginnt leicht zu pulsieren, doch mein Herz schlägt immer noch schnell in meiner Brust. Um mich zu beruhigen, atme ich tief durch und beginne eine monotone Melodie zu summen. Ich schließe meine Augen. Gedanklich spreche ich zu Eywa: "Ma nawma sa'nok, tìng mìkyun, rutxe." ("Große Mutter, bitte erhöre uns.")

Zunächst spüre ich nur dieses Gefühl der Geborgenheit. Es beruhigt mich nach einer Weile etwas. Dann jedoch höre ich, zwar undeutlich, aber dennoch verständlich, eine Stimme. Sie scheint zu Sey zu sprechen. Die Worte jedoch verschwimmen schnell und werden von einem Farbenspiel abgelöst, das sich vor meinem geistigen Auge abspielt. Es sind weiche und warme Farben und auch sie tragen dazu bei, dass ich noch ruhiger werde. Ich höre, dass Seysyu offenbar weint. Daher vermute ich, dass sie etwas sieht oder empfindet, das mit ihren Eltern in Zusammenhang steht. So lausche ich eine Weile und nehme die Gefühle, die die große Mutter mir zukommen lässt, tief in mich auf.

Ein Lachen durchdringt die verschwommenen Geräusche und Stimmen dann sehr plötzlich und lässt mich zusammen zucken. Etwas oder jemand scheint meinen Rücken zu berühren und leicht darüber zu streichen. War dies etwa Txuratxans Stimme, die ich da gerade hörte?  Aber wieso er...?  Ein Schauer durchzuckt mich. Wieso höre ich seine Stimme?  Ich kann daraus nur einen Schluss ziehen: Txuratxan ist zu Eywa gegangen. Unzählige Fragen und Gedanken schießen mir durch den Kopf. Er war mein Schüler, Sey mochte ihn wie seinen eigenen 'itan (Sohn), er war der sanftmütigste Jäger, dem ich jemals begegnet bin. Aber warum musste er sterben?

Ein Gefühl tiefer Trauer ergreift mich und ich versuche mich auf seine Stimme zu konzentrieren. Einige Momente lang gelingt es mir, doch dann höre ich das tiefe, sonore Lachen meines muntxatan (Ehemannes). Offenbar sind die beiden zusammen, denn sie sprechen gemeinsam zu mir, sagen mir, dass es ihnen gut geht, dass sie Maytame sehr lieb haben und dass ich sie umarmen soll. In meinen Gedanken versuche ich nach ihnen zu greifen, ihnen zu antworten, während sich meine rechte Hand beinahe schmerzend um die Tentakeln verkrampft, mit denen ich verbunden bin.

Ich spüre, dass ich weine. Alles um mich herum ist unwichtig geworden. Die Gefühle, Bilder und Winatarons und Txuratxans Stimmen umgeben mich und es fühlt sich an, als schwämme ich in einem unendlichen Meer der Gefühle. Wieder und wieder sprechen sie zu mir. Sie lachen, singen und ich weiß wieder einmal, es geht ihnen gut. Sie sind eins mit unsrer großen Mutter. Nun wird mir der Grund dieses unbestimmten Gefühls bewusst, das mich bereits den ganzen Tag verfolgt. Mein Puls verlangsamt sich nach einer Weile. Die Stimmen sind es, die mich ruhiger atmen lassen.

Es muss eine lange Zeit sein, die Sey, Seysyu und ich am vitra utral (Baum der Seelen) verbringen, denn als die Stimmen, Geräusche und Gefühle sich nach und nach weiter und weiter von mir entfernen und ich meine Augen aufschlage, geht sie Sonne bereits unter. Ich löse die Verbindung von dem Baum und gehe zu Sey, der dies bereits getan hat. Nur Seysyu sitzt noch auf dem Boden. Sie scheint jeden Moment auszukosten.

Immer noch weinend setze ich mich zu Sey. Ich bin froh, dass er da ist. Ob er von Txus Tod etwas gespürt hat?  Er legt mir seine Hand auf die Schulter und ich lege meine Hand auf seine. Wir schauen uns an, lehnen uns dann schließlich aneinander. Ob er ahnt, dass er mir gerade unglaublich viel Halt gibt?  Alleine würde ich wohl jetzt weinend davon laufen, doch Seys Anwesenheit lässt mich an diesem Ort bleiben. Wir warten gemeinsam, bis Seysyu dann ebenfalls ihre Verbindung löst. Sie weint ebenfalls, doch man sieht deutlich, dass bei ihr Freude der Auslöser ist. Sey und ich fragen sie nicht, ob und was sie erlebt hat. Wenn Seysyu es für richtig hält oder wenn sie Fragen hat, wird sie auf jemanden zu gehen, so wie es bei uns alle tun. 

Da es nun immer dunkler wird beschließen wir, den Heimweg anzutreten. Wir gehen recht zugig, vernachlässigen dabei aber unsere Aufmerksamkeit nicht. Das Gespräch, das ich eigentlich mit Sey bezüglich Dallans Vorschlag führen wollte, verschiebe ich auf den morgigen Tag. Zu sehr beschäftigt mich immer noch die Nachricht von Txuratxans Tod. Vielleicht werde ich noch einmal alleine zum vitra utral (Baum der Seelen) zurückkehren, um ihn dort noch einmal zu hören oder ihm vielleicht noch etwas mitteilen zu können. Er war ein guter Schüler, wissbegierig und er war auch sehr am Wissen über Pflanzen interessiert.

Maytame sitzt, als ich die Höhle betrete, mit Nìm'wey vor unserem Schlafplatz und lauscht einer Geschichte. Ich umarme sie und entscheide, zunächst noch nichts von Txu zu erwähnen. Als wir uns schlafen legen, schließt meine kleine Jägerin mich fest in ihre Arme, als könne sie etwas von dem spüren, das ich erlebt habe. Bevor wir einschlafen, lege ich meine Stirn an ihre und küsse sie: "Das ist von Deinem sempu (Papa)" flüstere ich ihr zu und drücke sie an mich: "Ich soll dich fest von ihm umarmen und Dir sagen, dass er Dich sehr lieb hat und dass er immer auf Dich aufpassen wird."

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