Donnerstag, 20. März 2014

Sempul tamerkup / Vater ist gestorben

Stamawm oel mokrit sneyä a way sami tìrol.
(Ich hörte seine Stimme, die ein Lied sang)

Bereits als ich erwache spüre ich dieses Gefühl des Verbundenseins, der Geborgenheit und der Wärme in mir. Erst, als ich meine Augen aufschlage, wird mir bewusst, dass ich die ganze Nacht über hier an diesem utralä aymokri (Stimmenbaum) gesessen habe und dass ich auch, während ich schlief, mit diesem verbunden war und dies immer noch bin. Es ist ein so wunderschönes Gefühl. In diesem Moment weiß ich, dass ich dies einmal wiederholen werde. Sey ist offensichtlich bereits vor mir aufgewacht, denn er ist nicht mehr hier. Daher genieße ich diesen Moment, trenne meine Verbindung noch nicht von dem Baum und lausche den immer noch andauernden, zwar gedämpften, aber dennoch deshalb nicht weniger interessanten und weichen Geräuschen und Stimmen, die ich durch meinen Zopf empfange.

Von hier aus kann ich den Wasserfall deutlich sehen und auch, dass die kleinere unserer drei Sonnen langsam und in tiefem Orange leuchtend den neuen Tag ankündigt. Der feine Nebel des Wassers lässt den dahinter liegenden Himmel in wunderschön weichen Farben erstrahlen. Ich höre die Rufe einiger ayayo (Vögel), höre das lustige und manchmal auch etwas listige Glucksen von einem oder zwei syaksyuk (Affen)  und denke daran, dass ich so verbunden oft mit Winataron die Nacht verbracht habe und dass dies ganz anders war, als das, was ich in der letzten Nacht und jetzt erlebe.

Die Stimmen des Baumes werden deutlicher in meinem Kopf und ich lausche ihnen, während ich versuche, mich an den Traum zu erinnern, den ich hatte. Aber ich sehe nur schemenhaft Bilder davon vor meinem geistigen Auge. Dann jedoch erlischt der Gedanke an diesen Traum, denn ich höre eine Stimme, die sehr schnell immer deutlicher wird und dann alles andere übertönt. Diese Stimme singt und bereits die ersten Töne lassen mein Herz rasen und mir einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Ich spüre, dass ich am ganzen Körper zu zittern beginne und in mir formen sich Gedanken zu Bildern. Bilder, an die ich mich sehr lange nicht erinnert habe. Dann, und in diesem Moment empfinde ich so etwas wie Angst davor, spricht diese Stimme zu mir und sie tut dies sehr direkt: "Ma lora 'itetsyìp..." ("Hübsches Töchterchen...") höre ich und allein diese drei Worte sind es, die mich in eine Art von Schockzustand fallen lassen. Sempu (Vater) sprach mich immer so an, als ich noch ein kleines Mädchen war und wenn er zu uns zurück kehrte und mich begrüßte.  

Panik ergreift mich, denn ich werde mir darüber bewusst, dass die Tatsache, seine Stimme hier zu hören nur bedeuten kann, das er zu Eywa gegangen und ein Teil von ihr geworden ist. Für mich selber klingt es leise und dumpf, als ich "Keheeeeeee!" ("Neeeiiin!") brülle, aber ich vermute, dass man mich bis hinauf in unser Lager hören kann und es ist mir vollkommen gleichgültig. "Frakrr..." ("Jederzeit..."), fährt sempu (Papa) mit seiner unverkennbaren Stimme fort: "ayngat hivawnu oel, ma nawma zeykoyu oeyä." ("werde ich Euch beschützen, meine große Heilerin.")  Wieso nennt er mich große Heilerin?  Woher weiß er das?  Ich brauche einige Momente, um die Zusammenhänge herstellen zu können. Natürlich weiß sempu (Vati), was aus mir wurde, seit ich den Clan verließ. Er ist nun ein Teil Eywas und spätestens seit ich mich mit dem Baum verbunden habe und er zu mir spricht, weiß er um meine Geschichte. Auch aus Winatarons, Kees und Txus Erinnerungen wird er viele Informationen bekommen haben.

Einen Moment lang empfinde ich Hass. Sehr großen Hass. Ich verurteile Eywa, dass sie mir sempul (Vater) genommen hat, bevor ich noch einmal die Gelegenheit finden konnte, ihn und sa'nu (Mama) zu besuchen. Doch ich erkenne, dass es falsch ist, die große Mutter dafür zu verurteilen. Ich selber habe versagt. So oft habe ich daran gedacht, zu ihnen zu gehen, doch ich tat es nie. Es gab schlechte und schwere Zeiten, in denen es schlichtweg nicht ging und es gab Zeiten, zu denen sich einfach keine Gelegenheit fand. Als die kleine noch ein prrnen (Baby, Kleinkind) war, konnte ich mit ihr noch nicht zu ihnen fliegen. Dann starb Winataron. Später folgte diese Flutkatastrophe. Nun ist es zu spät...

Ich schäme mich vor mir selber und deshalb spreche ich ein paar Worte zu Eywa und hoffe, dass sie mich verstehen und es mir vergeben wird, ebenso wie sampu (Vati). Auch wenn ich weiß, dass meine Worte nicht von ihm gehört werde, so weiß ich dennoch, dass er in mein Herz hinein sehen kann und in meine Gedanken. Er wird wissen, dass ich ihn liebe und dass es nicht aus Respektlosigkeit geschah. Und genau dies bekomme ich auch zu spüren. Ein Gefühl von Wärme und Liebe durchströmt mich und er spricht zu mir: "Ma oeyä 'ite anawm..." ("Meine geschätzte Tochter") sagt er und seine Worte dringen tief in mein Bewusstsein ein: "Meine Gedanken werden immer in Deinem Herzen sein und meine Liebe wird Dich allgegenwärtig umgeben. Als Du einst von uns gingst, war es ein Schmerz im Herzen Deiner sa'nu (Mutti) und mir, doch wir lernten, dass dies der ewige Kreislauf ist. Wir haben Dich niemals vergessen und Du warst immer Teil von uns und von unseren Erinnerungen."

Er spricht sehr lange zu mir und mit jedem Wort spüre ich das Gefühl der Liebe und Verbundenheit deutlicher. Dann beginnt er wieder dieses Lied zu singen und als er das tut, wird mein Herz sehr schwer. Ich spüre, dass ich zu weinen anfange. Es ist wieder das Lied, das er immer zu mir sang, als ich etwa in Maytames Alter war. Ich sehe mich auf seinen Knien sitzen und er wiegt mich etwas hin und her. Sa'nu (Mutti) lächelt uns zu, während ihre Hände mit etwas beschäftigt sind. Er soll nie wieder aufhören, dieses Lied für mich zu singen, wünsche ich mir.

Nach und nach wird dann aber der Gesang und auch die Geräusche drumherum leiser. Ich will nicht, dass er nun geht, vermag dies aber nicht zu steuern. Doch ich weiß, ich werde ihn sehr bald wieder hier hören oder spüren. Als ich meinen Zopf sehr langsam und andächtig von dem Baum löse, spüre ich erst, dass mein Körper von Tränen überströmt ist. Ich bemerke allerdings auch, dass sich irgendetwas verändert hat, das ich nicht beschreiben kann. Es ist etwas in meinem Inneren. Als Sey mich anspricht, nehme ich ihn zuerst gar nicht bewusst wahr. Erst, als er noch einmal zu mir spricht, bemerke ich ihn und mir fällt auf, dass ich offenbar von dem utral aymokriyä (Stimmenbaum) bis ans Ufer unseres Sees gegangen ein muss.

Natürlich hat Sey längst bemerkt, dass etwas nicht stimmt, doch er fragt mich nicht danach. Sehr respektvoll wartet er ab, ob und was ich ihm berichten werde. So erzähle ich ihm von diesem Erlebnis. Er wird etwas traurig, lächelt mich aber dennoch zuversichtlich an und spricht: "Nun weißt Du, ma Kxìrya, dass es Deinem sempul (Vater) gut geht."  Er erkundigt sich nach Vaters Namen: "Kxorìm.", antworte ich: "Kxorìm te Weytana Wayu'itan."  und erst jetzt fällt mir auf, dass wir bisher niemals über ihn und sa'nu (Mama) sprachen. So erzähle ich Sey von ihm und ich spüre, wie es irgendwie aus mir heraus sprudelt. Ich berichte von dem Lied, von Dingen die wir immer gemeinsam taten und auch davon, dass er oft nicht bei uns sein konnte, weil er als Jäger sehr oft mit den anderen Jägern des Clans unterwegs war. oft mussten sie tagelang und weit fort gehen, um Beute zu finden. Sey hört mir sehr interessiert zu, bis ich ihm dann vorschlage, zurück in unser Lager zu gehen.

Dort angekommen, treffen wir auf Sey'syu, die natürlich auch gleich spürt, dass mit mir etwas nicht stimmt. So erzähle ich auch ihr, was vorgefallen ist und bemerke dabei ihre leichte Traurigkeit. Es lenkt mich dann etwas ab, als Sey Sey'syu bittet, ihm von ihrer Reise zu erzählen. Außerdem interessiert es mich gleichermaßen zu erfahren, ob sie die Tipani gefunden hat und vor allem auf wen sie dort getroffen ist?  "Ich habe einige Male mit Beyda den Messerkampf trainiert." verkündet sie und zieht stolz ihre Waffe. Alleine der Name Beyda löst in mir eine wahre Flut von Erinnerungen  aus. Mit ihm saß ich einst viele Tage und Nächte lang neben unserer schwer kranken Tsahìk (spirituelle Clanführerin) und ihm offenbarte ich während unserer langen Unterhaltungen auch eines meiner intimsten Geheimnisse. Er tat dies ebenso...

Sey'syu berichtet von Atan, dem Olo'eyktan der Tipani und erzählt, was sie mit einigen anderen des Clans erlebt hat. Sie wirkt sehr viel reifer auf mich und ich glaube in ihrer Stimme eine Art von Selbstbewusstsein hören zu können, das sie vor ihrer Reise noch nicht hatte. Es erfüllt mich mit Freude, dass diese Reise ihr offenbar viele neue Erkenntnisse und Erfahrungen gebracht hat. Ich kann es kaum erwarten, dass Ne'wey, ihre karyu (Lehrerin) ebenfalls von ihrer Reise zurück kehrt. Auch sie wird stolz auf ihre numeyu (Schülerin) sein, hoffe ich. Wie Sey'syu so erzählt und dabei immer müder zu werden scheint, denke ich daran, was ich sempu (Vater) versprochen habe. Ich werde sa'nu (Mami) besuchen und Maytame mitnehmen. Auch ist es mein Wunsch, dass Sey'syu uns dorthin begleitet. Die beiden werden sich mögen und Maytame...?  Sie wird mit sa'nu (Mutti) bestimmt nach diesem Besuch viele Geheimnisse teilen. Zwar müssten wir auf den fa'li (Schreckenspferd) reiten, da Sey'syu ja noch keinen Ikran (Banshee) hat, aber ich würde diese Reise dennoch sehr gerne auf mich nehmen. Auf diesem Weg könnten wir vielleicht sogar eine Tsahìk (spirituelle Clanführerin) besuchen, der ich dies nicht nur versprochen hatte, sondern der ich auch sehr viel verdanke. 

Sey hört uns die ganze Zeit beinahe kommentarlos zu und unterbricht sowohl Sey'syu, als auch mich nur, wenn wir zu schnell erzählen und er daher etwas nachfragen muss. Wir reden noch lange und schließlich verabschiedet er sich von uns und erklärt, er wolle in den Wald gehen. In der Nähe der Menschensieldung möchte er Beobachtungen anzustellen. Sey'syu und ich kuscheln uns ein wenig aneinander und umarmen uns leicht und wir erzählen uns noch gegenseitig von unseren Erlebnissen - und auch von unseren Wünschen...

Immer schwerer wird es dann für uns, die Augen offen zu halten, daher beschließen wir hier am Feuer gemeinsam einzuschlafen. Ich beobachte sie noch einige Momente, als sie dann ruhig atmend neben mir liegt, streiche ihr vorsichtig eine Haarsträhne aus ihrem hübschen Gesicht und denke an sa'nok (Mutter). Ehe ich dann auch einschlafe, gebe ich sa'nu (Mama), mir und vor allem sempul (Vater) noch einmal das Versprechen, sie zu besuchen, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt...  Allerdings entfällt mir nicht, auch an das zu denken, was schon in wenigen Tagen vor uns liegt...

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