Montag, 31. März 2014

Oe kä Eywane / Ich gehe zu Eywa

Yune oel aymorkit ta sa'nok anawm fwa tsun ralpiceng ayaungiat kxawm.
(Ich lausche den Stimmen der großen Mutter, um viellicht die Zeichen deuten zu können.)

Es lässt mich einfach nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder denke ich über diese neuen sawtute (Himmelsmenschen), den Clan und das nach, was noch alles vor uns liegen mag. Es ist tiefe Nacht. In unserer Höhle ist es still und nur das Atmen der Schlafenden um mich herum ist zu hören. Das Jammern und Heulen einiger Nantangs (Natterwölfe) dringt von weit draußen aus dem Wald zu uns herein. Sie sind auf der Jagd. Maytame scheint ein wenig unruhig zu sein, denn ich höre ganz leise ein Knurren von ihr. So befreie ich mich sehr vorsichtig, um sie nicht zu wecken, aus Sey'syus liebevoller Umarmung, um dann zu unserer Feuerstelle zu schleichen. Ich werde zum vitra utral (Baum der Seelen) gehen, doch zuvor lege ich noch etwas Holz auf das Feuer, nehme dann meinen Bogen und den Köcher. Dann marschiere ich los, werfe aber, als ich unter unserem Torbogen stehe, nochmal einen Blick zurück ins Lager.

Den See hinter mir zurück lassend, schleiche ich entlang des Flussufers. Wieder höre ich die Nantangs (Natterwölfe) heulen. Ich meide den Wald, um nicht unnötig die Aufmerksamkeit unserer Feinde auf mich zu ziehen und halte mich nahe des Flussufers. So habe ich selbst im Falle eine Angriffs noch einen Fluchtweg. Die eine unserer drei Sonnen wirft ihre Lichtstrahlen in unseren Wald hinein, doch sie es vermögen nicht alle bis zum Boden durchzudringen. So entsteht durch den langsam über den Waldboden dahin schleichende Nebel ein diffuses Licht. Am Flussufer knie ich nieder, als ich die frischen Fußabdrücke einiger Yeriks (hirschähnliche Tiere) in dem leicht schlammigen Boden erkenne. Freude erfüllt mich, denn ich hatte Sorge, dass unser Land durch die Zerstörung der metallenen Röhren und die daraus auslaufende, ätzende Flüssigkeit vielleicht vergiftet sein könnte. Tsaros Berichten zufolge ist das Wasser der Flüsse inzwischen wieder trinkbar, dennoch bin ich vorsichtig.

Einige aysyaksyuk (Affen) schwingen sich behände über die Bäume und durch die Lianen über mich hinweg. Ich setze meinen Weg fort und balanciere über einen umgestürzten Baumstamm, der mich zum anderen Flussufer führt. Am anderen Ufer angelangt, frage ich mich, ob ich kurz zum Lager der Maguyuk hinüber gehen und nach dem Rechten schauen soll?  Von Korlan weiß ich, dass sie für einige Tage in den Wäldern etwas außerhalb unterwegs sind, um das Land zu erkunden. Doch ich setze meinen Weg fort. Sicherlich wäre es einem unserer Jäger aufgefallen, wäre dort etwas geschehen. In der Ferne höre ich, wie die Wellen des Ozeans sich an den Klippen brechen. Einige ayfkio (Pelikane) kreischen hoch über mir. Bald schon, sehr bald, werde ich über diesen weiten Ozean hinweg fliegen, um sa'nok (Mutter) und damit auch meine eigenen Wurzeln zu besuchen. Doch zuerst muss ich noch einige Dinge in Erfahrung bringen...

Ein merkwürdiges Gefühl ergreift Besitz von mir, als ich dann den heiligen Ort betrete. Ich kann nicht einmal genau sagen, ob ich dies zuvor schon einmal spürte. Ebensowenig kann ich es näher beschreiben. Auch ohne mich mit dem Baum zu verbinden, spüre ich Wärme, spüre, dass irgendetwas mich zu umgeben scheint und empfinde Nähe und Geborgenheit. Ich lege meinen Bogen und die Pfeile und verbeuge mich vor sa'nok anawm (der großen Mutter). Etwas in mir lässt mich jedoch zunächst noch zögern, weiter auf den utral (Baum) zu zugehen. So nehme ich die Stimmung, die das fahle Licht des langsam anbrechenden Morgens erzeugt, tief in mich auf. Einige der Wurzeln des vitra utral (Baumes der Seelen) schimmern in grünlich mattem Licht und wieder kommt es mir so vor, als sähe ich dies alles gerade zum ersten Mal.

Sehr langsam trete ich nahe an den Baum heran und knie mich wie zu einem Gebet nieder, während ich das Ende meines Zopfes über meine Schulter nach vorn streife, um mich dann mit seinen Tentakeln zu verbinden. Einen kleinen Augenblick kommt es mir so vor, als würde ich dies zum ersten Mal tun. Denn obwohl ich das Gefühl genau kenne, ist es heute doch irgendwie anders. So verwundert es mich auch nicht, dass ich nicht lange warten muss, bis ich die ersten Stimmen, wenn auch zunächst noch dumpf und leise, höre. Ich lausche ihnen, lasse sie näher kommen, sie auf mich einwirken und gebe mich diesem immer stärker werdenden Gefühl der Liebe und Geborgenheit hin.

Es werden mehr Stimmen und ich höre sie singen. Ich muss mich konzentrieren, höre aber dann, dass es sich um ein Ritual handelt. Ein tapferer Krieger verlor sein Leben im Kampf gegen einen Palulukan (Thanator). Unweigerlich danke ich Eywa dafür, dass sie mich dieses Schicksal damals nicht ereilen ließ. Ich denke an Maytame, die es in diesem Falle auch nicht gäbe. Eine Stimme spricht zu mir und ich zucke zusammen. Einige Momente überlege ich, wo ich diese Stimme schon einmal gehört habe?  Dann sehe ich das Bild eines syaksyuk (Affen) vor meinen Augen und mir wird klar, dass mein Traumtier zu mir spricht: "Es ist an der Zeit...", so spricht er, in meinem Kopf wiederhallend, aber dennoch sanft: "dass Du Dich Deiner gewählten Prüfung stellst."  Eine kleine Weile vergeht und ich höre diese Gesänge wieder deutlicher, dann spricht er erneut zu mir: "Folge dem Ruf Deines Herzens und folge dem Ruf Deines Verstandes, dann wirst Du erneut auf mich treffen und wir werden eins sein."

Als ich meine Auge öffne, sehe ich wieder dieses pulsierende, grünliche Licht. Wieder breitet es sich wabernd von den Wurzeln des vitra utral (Baumes der Seelen) nach außen hin aus und wieder empfinde ich keine Angst davor. Es ist eher, als wolle es mich in sich einhüllen, um mir damit etwas zu zeigen. Nach oben, in Richtung der Baumkrone schauend, stelle ich fest, dass auch die Tentakeln, mit denen mein Zopf verbunden ist, nicht mehr gleichmäßig zu leuchten scheinen. Auch ihr Licht pulsiert. Auch wenn es nur eine momentane Empfindung ist, glaube ich zu spüren, dass Eywa mir damit zeigen will, was Sey und auch ich schon seit längerem vermuten und über das wir auch schon oft sprachen. Sie hat mich für etwas auserwählt. Sie möchte mir offenbar damit sagen, dass ich mich neuen Aufgaben zuwenden und mich auch neuen Prüfungen stellen soll. Ich spüre Unsicherheit in mir aufkeinem. Doch wieder empfange ich durch meine Verbindung das ohnehin schon die ganze Zeit über spürbare Gefühl des Willkommenseins, der Liebe und der Geborgenheit. 

Die Stimmen und Gesänge verändern sich allmählich. Schließlich höre ich gesprochene Worte und diesmal erkenne ich die Stimmen gleich. Txuratxan und Winataron scheinen meine Verunsicherung zu spüren, denn sie lassen mich ihre Nähe und Verbundenheit empfinden. Winas Liebe ist plötzlich so deutlich, dass ich das Gefühl habe, gerade nur mit ihm verbunden zu sein. Ich stehe auf, meine Arme dabei nach ihm aussteckend. Das Pulsieren des Lichtes um mich herum wird intensiver, als ich versuche, nach Wina zu greifen. Tuxs Worte, als er dann spricht, sind in einer Art, die ich niemals von ihm hörte, als er noch unter uns weilte: "Ma nawma tsmuke sì 'eylan..." ("Geehrte Schwester und Freundin..."), sagt er: "Alles ist in ständiger Bewegung. Vieles zieht an uns vorüber und vieles, das wir erleben erscheint uns wie ein Traum."  Ich höre Winas zuversichtliches und zustimmendes Lachen, als Txu fortfährt: "Du hast einen festen Platz in unserem Clan, hast eine feste Aufgabe, doch die Zeit der Veränderung ist nun auch für Dich gekommen."  Dann spricht Winas tiefe Stimme zu mir und genau so, als würde er noch leben, läuft mir ein Schauer über den Rücken: "Ma Kxìrya, lausche tief in Dich hinein. Du wirst erkennen, dass es schon von Anbeginn Eywas Plan für Dich war. Alle Aufgaben, alle Prüfungen und auch das Leid und die Freuden, die Du bisher erlebt hast, sie ergeben einen Sinn. Du hast das Wissen, unsere Zeichen richtig zu deuten."
Wieder höre ich Gesänge und lausche ihnen eine sehr lange Zeit. Das mich umgebende und pulsierende Licht nimmt noch etwas an Intensität zu. Beinahe ist es ein Glühen, das sich über den Boden ausbreitet. Zwar verstehe ich die Worte der Gesänge, doch zunächst ergeben sie für mich noch keinen Sinn. Bis ich schließlich darauf komme, dass ich einem weiteren Ritual zuhören darf. Diesmal ist es allerdings eine Zeremonie, der ich noch niemals in meinem Leben beiwohnen durfte, weshalb ich eine ganze Zeit lang brauche, um zu erkennen, dass es sich dabei um eine Zeremonie handelt, die zu Ehren einer neuen Tsahìk (spirituellen Clanführerin) abgehalten wird. Es mag wohl ein ganzer Clan sein, der sich um diese zeykoyu (Heilerin) versammelt hat. Sie alle sprechen beinahe wie aus einem Munde zu ihr und ehren sie. Erst, als ich die Stimme meines semul (Vaters) unter den vielen Stimmen vernehme, begreife ich, dass es das sich um die Zeremonie handeln muss, als die Heilerin meines Heimatclans zur Tsahìk (spirituellen Clanfüherin) wurde. Wieder erreichen mich Gefühle der Nähe, der Wärme und der Verbundenheit. 

Zwar nehme ich, und dies auch eher im Unterbewusstsein, wahr, dass der Tag sich langsam dem Ende neigt, doch es ist mein fester Wille, hier an diesem Ort zu verbleiben, bis die große Mutter sich von mir entfernt und die Stimmen, Geräusche, Gesänge und Empfindungen verblassen. So lausche ich weiter, beobachte dabei das um mich herum pulsierende Licht und nehme wahr, wie die eine unserer Sonnen langsam versinkt. Die beiden anderen verändern ihren Farbton ebenfalls allmählich zu einem tiefen Orange. Dann geschieht plötzlich und im ersten Moment auch etwas unerwartet das, worauf ich insgeheim so sehr gehofft hatte. Für einen kurzen Augenblick fängt mein Herz an zu rasen, als ich sempu (Vati) unser Lied singen höre. "Rutxe kawkrr rä'ä rol, ma sempu." ("Bitte höre nie wieder auf, zu singen, Vati.") höre ich meine eigenen Worte fast wie in einem Traum. Ich höre andere Stimmen, die in seinen Gesang mit einstimmen, glaube unter ihnen auch Ari'lanas Kinderstimme zu erkennen und beginne mit ihnen zu singen. Weitere, mir unbekannte Stimmen kommen hinzu und ich knie mich wieder hin und schließe meine Augen, um mich noch stärker auf sie konzentrieren zu können. Es fühlt sich an, als wären wir eine große Familie, ein Clan, der um ein großes Feuer herum versammelt ist. Ich fühle mich dazugehörend, geborgen und in Sicherheit und weiß, sie alle werden mich und unseren Clan immer beschützen, uns immer helfen und für uns da sein, wann immer wir sie brauchen.

Und ich spüre noch etwas, das ich schon sehr lange nicht mehr gefühlt habe. Auch wenn sie nicht zu mir spricht, mit uns singt oder sie sich mir als geistiges Bild zeigt, fühle ich Kee'lanees Nähe so, als säße sie gleich neben mir hier am vitra utral (Baum der Seelen). Vertieft in meinen Gesang weiß ich, dass sie alle um mich herum versammelt sind. Einige kann ich sehen, viele nur spüren und ich spüre auch den Geist eines ganz besonderen Mädchens. Mein Messer war es, das, gelenkt durch meinen Hass und meine Wut, einst ihr Leben beendete, doch sie vergab mir und ich ihr. Auch sie wird immer in meinen Erinnerungen und auch in meinem Herzen bleiben. Eywa sorgte dafür, dass wir keinen Groll gegeneinander hegen. Ich sehe sie als tsmuke (Schwester) und sie mich als ebensolche.

Ich wünsche mir, sie alle könnten jetzt dabei sein. Sey, Ne'wey, Tsaro, Sey'syu, Maytame und wie sie alle heißen und höre dann meinen syaksyuk (Affen) sprechen, der meinen Gedanken beantwortet: "Es wird ein langer Weg sein und er wird nicht leicht werden. Aber wenn die Zeit gekommen ist, werden sie alle Dich begleiten."  Dann wird es still. Die Gesänge und Stimmen entfernen sich überraschend schnell von mir. Stille umgibt mich, durchdringt mich und ergreift schließlich Besitz von mir.

Als ich meine Augen aufschlage und mich ehrfürchtig und langsam erhebe bemerke ich, dass es inzwischen wieder tiefe Nacht geworden ist. Die erste unserer drei Sonnen wirft wieder ihre zu schwachen Strahlen auf unser Land, die sich mit dem Nebel zu einem matten Licht vermischen. War ich wirklich einen ganzen Tag lang hier an diesem Ort?  Spielt mir meine Wahrnehmung nur einen üblen Streich?  Nein, es ist alles so geschehen, wie ich es empfunden habe. Bevor ich jedoch die Verbindung zwischen meinem Zopf und den Tentakeln des vitra utral (Baumes der Seelen) löse, verneige ich mich vor ihr, der großen Mutter und vor allen, von denen ich einmal mehr weiß, dass sie immer um uns herum sein werden: "Ma nawma Eywa...", flüstere ich andächtig: "oe nìtxan irayo si ngar ulte nìmun tayok oel fìtsengit ye'rìn." ("Große Eywa, ich danke Dir sehr und ich werde bald wieder hier an diesem Ort sein.").

Gedanken kreisen in meinem Kopf, während ich mich auf den Weg zurück in unser Lager mache. Dass die Nantangs (Natterwölfe) wieder in der Ferne heulen, verängstigt mich nicht. Meinen Bogen und die Pfeile trage ich in beiden Händen mit mir. Als ich unseren See erreiche, in dessen leichten Wellen sich das tiefrote Licht einer unserer Sonnen spiegelt, sehe ich weiter hinten das Leuchten einiger Stimmenbäume. Die beiden Nächte, die ich mit Sey dort verbrachte, kommen mir in den Sinn und ich erkenne, dass er bei allem, was er mir sagte, Recht behalten hat.

Etwas lächeln muss ich dann nur, als ich meinen Bogen und den Köcher ablege und mir meinen Umhang abstreife. Alle smuktu (Geschwister) schliefen, als ich aufbrach und nun, als ich zu ihnen zurück kehre, schlafen sie schon wieder. So begebe ich mich in unsere Höhle, streiche meiner kleinen Jägerin durch ihr Haar und lege mich zu meiner yawntu (Liebsten), um sie in meine Arme zu schließen. Sey'syu scheint es zu bemerken, denn sie schnurrt ein wenig, wacht jedoch nicht auf: "Hivahaw nìmwey." ("Schlaf gut.") flüstere ich ihr ins Ohr und schließe dann ebenfalls meine Augen...

Keine Kommentare :