Dienstag, 18. März 2014

Stxonga ayaungia / Merkwürdige Zeichen

Tse'a oel atanit astxong vitra utralro.
Tsatsun srung sivi Sey oer fwa kame tsat srak?
(Ich sehe ein merkwürdiges Licht am Baum der Seelen. Wird Sey mir vielleicht helfen können, es zu verstehen?)

Ein Traum lässt mich erwachen. Es ist ein sehr beängstigender Traum, der in mir Verwirrung und Besorgnis auslöst, denn ich sehe dieses Rudel Nantangs (Natterwölfe) und wie es nach Beute suchend und witternd in unserem Lager herum schleicht. Neos Berichte und Tsaros Wunden haben mich offenbar doch tiefer getroffen, als ich es selber eingeschätzt hätte. Ob sie alle sehr krank sind?  Was, wenn sie wirklich bis hierher kommen?  Was wenn sie uns in der Nacht überraschen und angreifen?  "Maytame!" hallt, der Klang meiner Stimme an den Wänden unserer Höhle wieder.  Sie wäre ihnen hilflos ausgeliefert und selbst, wenn wir alle sofort aufwachen würden, würde sie sehr wahrscheinlich schwere Verletzungen davon tragen. Wir aber müssten diese Tiere töten oder zumindest verwunden, um sie in die Flucht zu schlagen...

Als ich mich umschaue, stelle ich erleichtert fest, dass durch meinen unabsichtlichen Ruf niemand aufgeweckt wurde. Meine kleine Jägerin zuckt kurz mit ihrem Schweif, schläft aber ruhig weiter. So beschließe ich entgegen meines ursprünglichen Plans, heute doch nicht an meinem Umhang weiter zu arbeiten, Ich werde zum vitra utral (Baum der Seelen) gehen. Ich hoffe, Eywa wird mich etwas hören lassen oder mir anderweitig ein Zeichen geben, was diese ganzen Vorgänge betrifft, die gerade in unserem Land vor sich gehen. So trinke ich etwas Saft, der noch an von gestern an der Feuerstelle übrig geblieben ist und schneide mir von einer zur Hälfte aufgegessenen Frucht ein größeres Stück ab, das ich auf dem Weg essen werde. Nachdem ich meinen Bogen und den Köcher umgehängt habe, mache ich mich dann auf den Weg.

Entlang des Flusses gehend treffe ich auf niemanden und es ist merkwürdig still. Nur wenige Laute dringen aus dem Wald bis zu meinen Ohren. Dennoch, oder gerade deshalb bin ich sehr wachsam, schleiche mehr, als dass ich gehe und schaue mich immer wieder witternd um. Dann erreiche ich mein Ziel und wie immer, schaue ich ehrfürchtig in die riesige und von, es mögen tausende sein, leuchtenden Tentakeln bewachsene Krone. Eywa, die große Mutter. An diesem Ort fühle ich mich geborgen, sicher und vollständig von ihr umgeben. Es ist immer, als würde ich eine andere Welt betreten, wenn ich hierher komme.

Ich lege den Bogen ab und meine Pfeile daneben. Eywa beschützt mich und es wäre respektlos, ihr mit Waffen gegenüber zu treten. Dann verbeuge ich mich und mache das Zeichen zu ihr. Ich weiß, sie hat längst gespürt, dass ich da bin. Dann verbinde ich meinen Zopf mit einigen der in schwachem Licht leuchtenden Tantakeln. Zunächst höre, spüre und sehe ich nichts. Ein leichtes Gefühl der Enttäuschung bricht über mich herein. Doch als ich die Verbindung beinahe schon lösen will, höre ich plötzlich dann doch etwas. Zunächst weit entfernt, dann aber schnell lauter und deutlicher werdend höre ich Gesänge. Allerdings sind es Lieder, die ich so noch niemals zuvor gehört habe.

Doch sie interessieren mich. Die Melodien und die Worte, denen ich lausche, meine Empfindungen und Gedanken lassen mich sehr ruhig werden. Farben, die ein Gefühl des Willkommenseins vermitteln, kann ich vor meinem inneren Auge sehen. Es fühlt sich so an, als fiele ich nach einer unbestimmbaren Zeit in eine Art von tiefem Schlaf. Es ist ein Gefühl, das sich nicht mit Worten beschreiben lässt. So intensiv jedenfalls habe ich es bisher noch nie erlebt. Ich träume und es ist ein angenhemer, mich völlig durchströmender Traum. In tiefem Schlaf begegne ich einigen mir unbekannten. Viele Jäger sehe ich und ein paar Krieger, die in ihrer Kriegsbemalung auf mich zukommen. Aus ihrer Mitte höre ich eine recht deutliche Stimme. weiß aber nicht zu deuten, ob sie zu mir spricht. Sey'syuä sempul (Sey'syus Vater) ist es, zu dem diese Stimme gehört, ich erkenne sie. Und ich höre noch eine weitere, mir sehr wohl vertraute Stimme, die ich zudem sehr mag, weil sie einen sehr angenehmen, leicht melodiösen und warmen Klang hat. Es ist ihre sa'nok (Mutter). Doch ihre Stimme dringt nur schwach zu mir durch, so dass ich sie gerade eben erkennen, nicht aber verstehen kann.

Wärme durchströmt mich und dieses Gefühl der unendlich erscheinenden Geborgenheit und Nähe. Die Gesänge um mich herum werden etwas lauter, wecken mich aber nicht aus meinem Schlaf. Dann spreche ich zu ihnen, frage sie nach den Geschehnissen, die um uns herum passieren. Ich bitte sie, uns zu helfen, uns zu beschützen. Ob meine Worte zu ihnen durch dringen, vermag ich nicht zu sagen, denn sie antworten mir nicht. So lausche ich weiterhin den Stimmen, zu denen nach und nach immer mehr hinzu kommen. Schließlich entsteht ein Stimmenwirrwarr, aus dem ich kein Wort mehr klar heraushören kann. Doch ich fühle, was sie mir sagen wollen.

Dann wache ich plötzlich auf und es ist, als hätte ich sehr viele Tage geschlafen, ohne aufzuwachen. Ich spüre, dass ich immer noch mit dem vitra utral (Baum der Seelen) verbunden bin, höre immer noch die vielen Stimmen um mich herum. Am liebsten würde ich jetzt tanzen, mich zu den gesungenen Worten und Trommelklängen bewegen, weiß aber, dass dies natürlich nicht geht. So lausche ich ihnen, spüre aber, dass mein Oberkörper sich im Takt ihrer Musik hin und her bewegt.

Ich bleibe noch eine ganze Weile sitzen, als die Stimmen, Geräusche, Emotionen, Bilder und Eindrücke schon längst leiser und schwächer geworden sind und schließlich ganz verstummen. Als ich dann meine Augen aufschlage, sehe ich etwas, das ich bisher nur aus den Erzählungen anderer kenne. Von dem vitra utral (Baum der Seelen) geht beinahe kreisförmig ein Ring grünlich wabernden Lichtes aus. Er scheint aus den Wurzeln zu kommen und sich nach außen hin auszubreiten.  Es ist, als wolle dieses Licht mich einhüllen, wie eine Art Wasserfall, der mich umhüllt. Was hat das zu bedeuten?  Ich verspüre keine Angst davor, beginne jedoch zu ahnen, dass es damit irgendetwas auf sich hat, etwas vielleicht sehr wichtiges...

Mir fällt gleich Tac'ìri, die Olo'eyktan (Clanführerin) der Maguyuk (befreundeter Nachbarclan) ein und ich mache mich auf den Weg zu deren Höhle, um sie danach zu fragen. Möglicherweise hat sie dies schon einmal gesehen oder sie weiß etwas mehr darüber?  Jedoch versäume ich es nicht, mich von der großen Mutter respektvoll zu verabschieden, ehe ich meine Waffe wieder aufnehme. Bevor sich dann dem vitra utral (Baum der Seelen) endgültig für heute den Rücken kehre, drehe ich mich noch einmal um. Das pulsierende Licht ist inzwischen erloschen und alles ist wieder genau so, wie ich es zu Beginn vorgefunden habe.

Mein Weg zu unseren Freunden stellt sich jedoch als vergebens heraus, denn es ist niemand im Lager. Das Feuer brennt, einige frische Früchte liegen an der Feuerstelle herum, doch zu sehen ist niemand und meine Rufe verhallen ungehört in der Höhle. So mache ich mich auf den Weg zurück in unser Lager. Mit irgendjemandem muss ich darüber reden. Ich hoffe, Sey ist da. Auch wenn er  mir dies vermutlich nicht erklären kann, er wird mir immerhin zuhören, dessen bin ich mir sicher. Mein Heimweg wird allerdings von einem Geräusch unterbrochen. Ich erkenne gleich Sey, der den Ruf eines Syaksyuk (Affen)  nachahmt. Es ist unser Erkennungszeichen. Ein paar mal muss er jedoch rufen, damit ich die Richtung eindeutig heraushören kann. 

Er sieht mir gleich an, dass irgendetwas passiert sein muss und fragt natürlich auch gleich danach. Auf dem Weg zu den ayutral aymokriyä (Stimmenbäumen) berichte ich ihm von meinem Erlebnis. Als er meine fragenden Blicke bemerkt, erzählt er mir von seinen Begegnungen, die er gemeinsam mit Kee'lanee, unserer verstorbenen Tsahìk (spirituelle Clanführerin ) am vitra utral (Baum der Seelen) hatte. Er beschreibt mir alles und auch diese Leuchterscheinung sehr genau, aber auch er ist nicht in der Lage, mir zu erklären, was dieses Licht bedeutet. Er vermutet, dass es nur in ganz bestimmten Situationen auftritt und auch nur dann, wenn eine Person anwesend ist, die einen besonderen Bezug zu Eywa hat, wie eben etwa eine Tsahìk (spirituelle Clanführerin ).

Unwillkürlich formen sich in meinem Kopf Gedanken an das, was in der letzten Zeit vor sich geht in unserem Land, in unserem Clan und auch in mir. Schickt Eywa dieses Licht, um mir zu sagen, dass ich bereit bin oder mich dazu bereit halten soll, die Tsahìk (spirituelle Clanführerin) der Rey'engya zu werden?  Sicher, wir sprachen in letzter Zeit immer öfter über dieses Thema und auch Tsaro sprach mich direkt darauf an. Ich spüre, dass sich irgend etwas verändert und immer wieder gibt es verschiedenartige Zeichen. Doch ich fühle mich nicht, wie jemand, der Eywas Willen zu deuten vermag. Ich fühle mich als Jägerin, als Heilerin, als Mutter und als die, die den Clan und dessen Olo'eyktan (Clanführer) nach Kräften unterstützt.

Nur eines weiß ich ganz gewiss. Ich werde mich sobald Ne'wey, meine beste Freundin, wieder zurück gekehrt ist, meinem zweiten uniltaron (Traumjagd) stellen. Ich bin davon überzeugt, nur dadurch einige Antworten bekommen zu können, weiß aber, dass ich auch gleichzeitig auf neue und nicht zu beantwortende Fragen stoßen werde. Doch wird diese Prüfung erneut meine Geburt im Clan der Rey'engya sein. Dieses Ritual soll einen neuen Lebensabschnitt symbolisieren. Winataron ging zu Eywa, an seine Stelle wird, wie ich glaube und auch hoffe, Sey'syu treten. 

Sey nimmt, während wir  miteinander reden und ich ihm mein Herz ein wenig ausschütte, plötzlich meine beiden Hände. Sein Griff ist sehr sanft und seine Stimme ebenso, als er mich direkt ansieht und beinahe wie in einem Gebet zu mir spricht: "Ma Kxìrya,  lass uns wandeln in der Schönheit dieser Welt von Sonnenaufgang zu Sonnenuntergang und unter dem Licht der drei Sonnen und in der Nacht, wenn die Pflanzen uns Licht spenden. Lass meine Hände all dies respektieren, was Eywa erschaffen hat und lass meine Ohren hören, was Sie uns durch Dich sagen will."

Unweigerlich schießen mir bei seinen Worten ein paar Tränen in die Augen. Ich verstehe, was er mir damit sagen will und erwidere seinen fast zärtlichen Händedruck, indem ich meine Daumen seine Hände streicheln lasse. Beide schauen wir lange und wortlos auf unsere Hände. Ich fühle seine Nähe, seine Verbundenheit zu mir und dem Clan, einem Clan, der bereits viele und sehr schwierige Aufgaben und Prüfungen gemeinsam überstanden und gelöst hat. Doch werde ich die Aufgaben, die mir gestellt werden, immer richtig lösen können?  Werde ich die Kraft haben, an Seys Seite immer zum Wohle des Clans zu agieren und werden meine Entscheidungen immer die richtigen sein?  Werde ich dem Clan immer respektvoll und offen gegenüber treten und sie mir?  Ich vermag es nicht zu sagen.

Ein wenig erleichtert es mich, als Sey dann vorschlägt, hier inmitten der ayutral aymokriä (Stimmenbäume) zu schlafen. Maytame kommt mir in den Sinn und der Gedanke daran, dass sie morgen früh bestimmt nach mir suchen wird. Aber sie weiß, dass sa'nu (Mamasie niemals im Stich lassen wird und ich weiß, unsere smukan (Brüder) und smuke (Schwestern) werden auf sie acht geben. Daher stimme ich Seys Wunsch zu. Gemeinsam legen wir unsere Bögen unter einem der Bäume ab und ich lehne mich an den Stamm des Baumes an. Noch einmal verbinde ich meinen Zopf mit den Tentakeln und lausche...

Eywa ist wieder deutlich spürbar in mir und um uns herum und so schlafe ich ohne Angst und mit einem Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit irgendwann ein. Sie wird uns beschützen - immer...

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