Sonntag, 27. April 2014

Sa'nu / Mutter

'eylan oeyä 'ì'awn - 'ite oeyä hum. Kempe layen?
(Meine Freundin bleibt - Meine Tochter geht. Was wird geschehen?)

An jedem Tag, der seit der Rückkehr vom Clan meiner sa'nu (Mutti) vergeht, spüre ich, wie es mein Herz mehr und mehr zerreißen will. Auch wenn ich weiß, dass sa'nu (Mama) und ihr Clan gut auf Maytame aufpassen werden, dass sie dort Spielkameraden und neue Freunde gefunden hat und dass sie dort vieles lernen wird, fehlt sie mir mehr und mehr. Ich fühlte mich stark genug, sie dort zurück zu lassen, fühle aber nun, wie schwach ich doch bin. Doch eines nach dem Anderen...

Hatte ich mich vor einem Palulukan (Thanators) erfolgreich, wenngleich auch mit dem Verlust meines Bogens, retten können, erschrecke ich mich am darauf folgenden Morgen erneut. Als ich am Feuer aufwache bemerke ich, dass ich immer noch vollkommen nackt bin. Meine inzwischen getrockneten Sachen liegen immer noch am Feuer. Und noch etwas liegt neben mir. Es ist mein Bogen. Unscheinbar und klein, fast wie ein kleines Bündel liegt Dallan nur ein Stück weiter. Er scheint noch zu schlafen und so ziehe ich mich zuerst einmal rasch an.

Dann schaue ich mir, immer noch überrascht, den Bogen an, der zum Glück nur leichte Blessuren abbekommen hat. Als Dallan ebenfalls erwacht, überschütte ich ihn nur so mit Fragen, denn wieso liegt er plötzlich hier im Lager?  Wo war er viele Tage lang?  Woher kommt mein Bogen so plötzlich?  Fragen über Fragen muss er über sich ergehen lassen, doch er beantwortet sie mir alle sehr ausführlich. So begreife ich nach und nach die Zusammenhänge und danke Eywa, dass sie ihn im rechten Moment zu uns zurück geführt hat.

Er erklärt mir, dass er in seinem ikran lefngap (Metallikran) zurück gekommen sei und dass seine ayeltu lefngap (Computer)  und ayrelysyep (Bilderfallen) ihm sagten, dass ich in Gefahr sei. Er, so berichtet er sehr sachlich und ausführlich, aber auch mit Stolz und Freude im Gesicht, habe gegen den Palulukan (Thanator) gekämpft, dessen Aufmerksamkeit auf sich und den ikran lefngap (Metallikran) gelenkt, um mich, seine sa'nok (Mutter) vor diesem gefährlichen Jäger zu beschützen. Die Feuerpfeile, von denen einer dicht neben mir ins Wasser fiel, erläutert er, seien ungefährlich und sollten das Tier nur vorübergehend blind machen, verwirren und so in die Flucht schlagen. Nur im äußersten Notfall, versichert Dallan, hätte er das Tier getötet um mein Leben zu retten.

Die Frage, weshalb mein Bogen nun hier neben mir liegt, lässt Dallan lächeln: "Nun den fand ich eher zufällig." gibt er lachend zu: "Er schwamm auf dem Fluss und lag mit einer Hälfte am Ufer."  Ich bin ihm wirklich sehr dankbar für seinen Mut. Er erzählt mir nach und nach alles von seiner Reise, während ich ihm von Ne'weys Krankheit berichte. Wir reden sehr lange miteinander, erst dann verabschiedet er sich von mir, da er in der Menschenbasis etwas zu erledigen hat.

Tsaro bin ich ebenso dankbar, denn er unterstützt mich nach Kräften, um Ne'wey zu heilen. Ich spüre, dass sich die beiden von Tag zu Tag näher kommen und es macht mich glücklich. Ich bin sicher, meine Freundin wird sehr bald wieder auf den Beinen sein und mit uns gemeinsam wieder zur Jagd gehen können. An diesem Tag beschließen wir alle sehr früh schlafen zu gehen, denn bereits in aller Frühe werde ich mit Sey'syu und meiner kleinen Maytame zum Clan meiner sa'nu (Mama) aufbrechen.

Sehr früh wache ich dann auch auf und stelle fest, dass Sey'syu wohl vor uns allen auf den Beinen ist. Wir packen unsere Sachen und verabschieden uns. Es schmerzt mich etwas, Ne'wey in ihrem Zustand zurück lassen zu müssen. Doch das Wissen, dass Tsaro und die anderen sich ihrer während unserer Abwesenheit annehmen werden, lässt mich die Reise zuversichtlich und beruhigt antreten. Der Weg wird sehr lang werden und, da wir die fa'li (Schreckenspferde) nehmen, da wir nicht zu dritt auf Ya'rrì (Kxìryas Ikran) fliegen können, wird es auch ein beschwerlicher Weg werden. Zudem hatten wir beschlossen, den sicheren, längeren Weg dem kurzen aber dafür umso gefährlicheren vorzuziehen.

Wir kommen sehr gut voran und erreichen schon bald die ersten Anhöhen, die ich noch von früher her kenne. Einige Ikrane (Bandes) ziehen über uns hinweg und ich fühle mich zu Hause. Mir ist, als wäre ich niemals fort gewesen. Schon von weitem kommen uns einige Jäger und Krieger entgegen. Sie sind immer noch so wachsam, wie ich sie in Erinnerung habe. Wir kennen niemanden von ihnen, doch wie für unseren Clan üblich, werden wir sehr herzlich begrüßt und in den kelutral (Heimatbaum) eingeladen.

Noch haben wir unsere Namen nicht genannt und bleiben daher zunächst unerkannt. Dann jedoch erkennt mich Me'lan und begrüßt mich und auch meine beiden Begleiter sehr herzlich, aber auch respektvoll: "Ma Kxìrya!", freut er sich und ist sichtlich überrascht, während er das Zeichen der Begrüßung zu uns macht: "Oer lawnol nìtxan nang fwa tse'a pxengat!" ("Es ist mir eine große Frude, Euch drei zu sehen!")  Me'lan, ich erinnere mich sofort, als wäre es erst gestern gewesen, war einer der jungen Jäger, die mich wegen meines zu langen Schweifes und der damit oft verbundenen Probleme, dass ich darüber stolpere oder mir andere tollpatschige Dinge damit passierten, oftmals ärgerten. Ich begrüße ihn ebenso, denn vergessen sind die Streiche längt vergangener Kindertage und wie ich sehe, ist aus ihm inzwischen auch ein stolzer taronyu (Jäger) der Weytana (Kxìryas Elternclan) und muntxatan (Ehemann) geworden. Lì'nat, seine muntxate (Ehefrau) mochte ihn schon als junges Mädchen sehr gern.

Auch einige andere erkennen mich nun wieder. Maytame ist zunächst etwas zurückhaltend, als sie aber sieht, dass es unter den Weytana viele gleichaltrige evan (Jungen) und eve (Mädchen) gibt, lässt sie sich schnell darauf ein, sich deren Spiele zeigen zu lassen. Sey'syu wird ebenfalls gebührend empfangen und begrüßt. Dann kommt, während wir den kelutral (Heimatbaum) betreten, Okro' auf mich zu. Als ich fort ging, war auch er bereits ein stolzer und sehr mutiger Ikranjäger. Ich habe ihn dafür immer bewundert, da er keine Angst zu kennen scheint. Im Clan ist eine gewisse Unruhe zu bemerken, als sie mich dann zu sa'nu (Mama) führen. Zuvor muss ich meine kleine Jägerin jedoch von ihren neuen Spielkameraden zurück rufen. Im ersten Moment ist sie mir wohl böse, was ich natürlich verstehen kann.

Sie ist viel älter geworden, bemerke ich, als ich meiner sa'nok (Mutter) dann endlich gegenüber stehe. Aber sie ist gesund erkennt mich, ihr Kind, natürlich sofort. Unsere Umarmung ist herzlich und lang, sehr lang. Ich fühle mich wohl. Der Clan um uns herum verfällt beinahe in andächtiges Schweigen. Ich glaube, sie kann mein pochendes Herz an ihrer Brust deutlich spüren. Es tut mir gut, sie nach all der langen Zeit wieder zu sehen. "Srake tsa'eve lu 'ite ngeyä, ma Kxìrya?" ("Dieses Mädchen ist Deine Tochter, Kxìrya?") ist ihre erste Frage, die ich mit einem stolzen Nicken und einem ebensolchem Lächeln beantworte. Mutter schließt auch sie in ihre Arme. Sichtlich von Stolz erfüllt fragt sie: "Fyape fko syaw ngar, ma 'ite Kxìryayä?" ("Wie nennt man Dich, Tochter der Kxìrya?")  May, und das hätte ich nun nicht von ihr erwartet, stellt sich aufrecht vor sie, macht das Zeichen der Begrüßung und sagt festen Tons: "Maytame te Rey'angya Kxìrya'ite oer fko syaw, ma... ma..." ("Ich werde Maytame der Rey'engya, Kxìryas Tochter genannt...")  Sie schaut mich dann unsicher und stockend an, da sie Mutters Namen ja noch gar nicht kennt. Mutter lächelt wisend und sagt, dazu steht sie ebenfalls auf und erwidert die Geste: "Oer fko syaw Mekan te Weytana Uliä'ite." ("Ich werde Mekan der Weytana Uliäs Tochter genannt.")  Sie fügt aber hinzu: "Slä fraeylan oeyä fko syaw oer san sa'nu sìk nì'aw, ma hì'ia 'eylan amip." ("Aber alle meine Freunde nennen mich nur 'Mama', neue, kleine Freundin.")

Mutter tut das, was auch ich in unserem Clan immer mache, wenn neue Gesichter auftauchen. Sie ruft gleich alle zusammen, um ein kleines Fest vorzubereiten. Während die Vorbereitungen dann laufen, unterhalten wir uns und ich spüre, wie sie (Mutter) und May sich näher kommen. May erinnert mich, wenn ich sie so sehe, an mich slbst. Wie sie bei Mutter sitzt, ihr zuhört, was ihr sichtlich Vergnügen bereitet, all dies erinnert mich zurück an meine eigenen Kindertage. Sey'syu bietet natürlich ihre Hilfe an, wird jedoch freundlich, aber doch sehr bestimmt mit dem Kommentar: "Gäste müssen nicht helfen, ma Sey'syu!" abgewiesen. Um uns herum entsteht eine rege Geschäftigkeit. Alle, auch viele der älteren Kinder, fassen mit an, helfen alles zusammen zu tragen und  bereiten einige Dinge vor. Derweil zeigt sa'nu (Mama) uns unsere Schlafplätze.

Es kommt ein Moment, den ich wohl sehr lange nicht vergessen werde. Wir stehen vor meinem einstigen Schlafplatz und sie fragt: "Du möchtest doch sicherlich in Deinem Cocoon schlafen, ma 'ite (Tochter), nicht wahr?"  Ich kann das nicht glauben. Sie hatten meinen Schlafplatz, seit ich den Clan verließ, nie wieder angerührt. Niemand, so erklärt Mutter mir, durfte ihn benutzen. Sie und sempu (Vater) waren immer in der Hoffnung, ich würde eines Tages zurück kehren. Oft hat Mutter hier gekniet und geweint, gesteht sie mir. Wieder umarme ich sa'nu (Mami) und muss die in mir aufsteigenden Tränen unterdrücken. Ich habe ihnen sehr weh getan...

Der Tag vergeht viel zu schnell, doch wir sind von der Reise etwas müde geworden. So beschließen wir schlafen zu gehen. Heute Nacht werden wir drei gemeinsam an einer kleinen Feuerstelle übernachten. Es ist Mays Wunsch, zwischen Sey'Syu und mir zu schlafen. Mutter und der älteste Jäger des Clans stellen aus diesem Grund zwei Wachen ab, die die uns bewachen sollen. Ich halte dies für etwas unnötig, da es hier, unten im kelutral (Heimatbaum), sicher ist.

Der neue Tag beginnt mit einem ausgedehnten Essen. May ist schon sehr früh wach und spielt mit einigen anderen Kindern. Sie haben offenbar kleine Übungsspeere und werfen damit um die Wette. Immer wieder höre ich das ausgelassene Gelächter. Ich lasse sie gewähren, denn ich weiß, dass die etwas älteren Kinder auf alle acht geben werden. Außerdem sind die Heilerin des Clans, meine sa'nu (Mama) und ich in der Nähe.

Das abendliche Fest ist dann von vielen Liedern, Trommelspiel, Tanz,  wunderschönen Gewändern, reichhaltigem Essen und einer Auswahl von sehr schmackhaften Getränken geprägt. Natürlich müssen wir alles erzählen und so berichte ich von Sey, der verstorbenen Tsahìk (spirituellen Clanführerin), Kee'lanee, ich erzähle von Winataron und Dallan, dem sawtute (Himmelsmenschen), der unser Freund geworden ist und bei uns lebt. Mutters Clan hatte bis heute keinen Kontakt zu den sawtute (Himmelsmenschen), sie kennen sie nur aus Erzählungen. Umso interssierter hören sie zu und wollen alles über ihn, Dallan, wissen. Es kommt mir so vor, als liefe uns die Zeit davon, sodass wir gar nicht alles erzählen können. Zu kurz ist leider die Zeit, die wir gemeinsam verbringen können. Sey'syu und May tanzen, singen und erzählen ebenfalls und ich bemerke, dass Nì, ein Ikranjäger offensichtlich gefallen an Sey'syu gefunden hat, denn er rückt erstaunlich nahe an sie heran und mustert sie eingehend.

Als das Thema dann auf meine Tochter und Wina, ihren sempul (Vater) kommt und ich von dessen Tod berichte, wird es für einige Momente still am Feuer. Sey'syu hatte ebenfalls vom Tod ihrer Eltern berichtet. Sa'nu (Mama) fragt dann, welche Aufgabe Sey'syu im Clan habe und wir erzählen ihr, dass sie kurz vor ihrem Iknimaya (Prüfung für Jäger und Krieger) steht und dass wir uns auserwählt haben, aber mit einer möglichen Verbindung noch warten werden, bis Sey'syu ihre Prüfung abgelegt hat und ich das Ritual der Tsahìk (spirituelle Clanfüherin) hinter mich gebracht habe. Ich sehe kurz Verwunderung und Überraschung in einigen Gesichtern aufflammen. Sind sie verwundert darüber, dass ich nun eine Frau liebe oder ist es mehr das Erstaunen, dass ich eine Tsahìk  (spirituelle Clanfüherin) werde?

Mutter wird ernst und mahnt mich: "Ma 'ite, damit stehen wichtige und auch schwierige Aufgaben vor Dir."  Sie berät sich dann mit Kllkx dem ältesten Jäger und beide schlagen mir vor, Maytame vorübergehend bei sa'nu (Mutti) und dem Clan zu lassen, damit ich mich voll auf das konzentrieren kann, was nun vor mir liegt. Der Gedanke, mein Kind hier zurück zu lassen, versetzt meinem Herz einen kräftigen Stoß, doch sie haben Recht. So nehme ich mir vor, stark zu sein, denn ich weiß, dass Maytame es hier an nichts fehlen wird. Sie wird hier Dinge lernen, die sie bei uns vielleicht nicht lernen würde, sie hat gleichaltrige Kameraden, Jungen und Mädchen, während sie in unserem Clan nur unter Erwachsenen aufwächst und sie hat sa'nu (Mama), die für sie sorgen wird, so wie ich es tue.

Am Morgen des nächsten Tages kommt dann das, was ich mir so sehr gewünscht hatte und was mich eigentlich veranlasst hatte, diese Reise zu machen. Begleitet von Sey'syu, May, sa'nu (Mama) und einigen Jägern suchen wir jene Stelle auf, an der der Clan sempul (Vater) vergraben hat. Es ist eine Stelle in einem kleinen Wäldchen unweit des kelutral (Heimatbaumes). May überreicht mir zuvor stolz ein Gewand, das sie, zusammen mit Mutter, eigens für diesen Besuch gemacht hatte. Zwar erfordert es etwas Geschick, es anzulegen, doch ich werde sempu (Vati) ganz sicher nicht noch einmal enttäuschen...

Wir erreichen die Stelle. Der kleine Erdhügel ist noch deutlich zu sehen. Ehrfürchtig gehe ich, allen voran, darauf zu und knie mich nieder. Sagen kann ich in diesem Augenblick nichts. So verweile ich eine unbestimmte Zeit, schaue mir nahezu jeden Grashalm, jede Blume und jede Wurzel an, die inzwischen auf dem kleinen Berg gewachsen sind. Um Vater meine Anwesenheit spüren zu lassen, verbinde ich meinen Zopf mit einigen nur lose von Erde bedeckten Wurzeln. Ich verweile noch einen Moment und obwohl ich nichts höre oder sehe, spüre ich, er ist da und spürt mich ebenso. Wärme durchströmt mich. Als Sey'syu mich dann sanft anstupst, erwache ich aus meinen Gedanken und spüre erst jetzt, dass mir Tränen am Gesicht und den Schultern herunter rinnen. Sie reicht mir ein atokirina' (Waldgeist, Saat des heiligen Baumes), das ich zunächst nicht annehme, um mit meinen Händen eine kleine Grube zu graben. Dann erst nehme ich es Sey'syu ab und lege es in die Grube. Ich beginne zu sprechen: "Ma nawma sempu. Oel fìtsengit tok fìtrr fte tsivun kivameie ngat. Oer txoa livu rutxe ulte nawma sa'nok lrrtok siyevi ngar frakrr." ("Geehrter Vati, heute bin ich hier, um Dich sehen zu können. Bitte vergib mir und möge die große Mutter Dir allzeit zulächeln.")

Ich spüre, wie sich eine kleine Hand auf meine rechte Schulter legt. Es ist jenes kleine Mädchen, das ihren sempul (Vater) niemals kennen lernen durfte. Eine Hand Sey'syus legt sich auf meine andere Schulter und als ich für einen kleinen Moment auf schaue sehe ich, dass alle Anwesenden jeweils ihre Hände auf die Schultern der vor ihnen stehenden gelegt haben. Es ist sehr still, nur einige Geräusche des Waldes sind zu vernehmen und das Rauschen eines weiter entfernten Wasserfalls. "Ngal tìng oer seykxelit. Mokril ngeyä tìng lawnolit oer nìteng. Pänutìng oel ngati fwa frakrr hivawnu olo' ngayä. Nga layu txe'lanmì ngeyä frakrr sì fratseng ulte oe leiu 'ite ngeyä." ("Du gibst mir innere Stärke. Deine Stimme gibt mir große Freude. Ich verspreche Dir, meinen Clan allzeit zu beschützen. Du wirst immer und überall in meinem Herzen sein und ich bleibe Deine Tochter.") Dann singe ich dieses Lied, mein Lied, sempus (Papas) Lied, unser Lied, das er am Baum der Seelen immer für mich singt und höre, wie alle leise mit in den Gesang einstimmen. Es dauert lange, bis ich mich dann wieder erhebe und mich mit der Begrüßungsgeste respektvoll von ihm verabschiede. "Eywa hu nga ma nawma sempu." ("Möge Eywa mit Dir sein, großer Papa.") flüstere ich noch, ehe wir dann den Rückweg antreten, der mir sehr schwer fällt.

Im kelutral (Heimatbaum) nimmt Mutter mich dann zur Seite. Etwas abseits von allen anderen erklärt sie mir, dass mein Tun vorhin sie beinahe an das Ritual einer Tsahìk (spirituellen Clanführerin) erinnerte und dass ich ihrer Meinung nach eine starke Frau und gute Mutter geworden sei und dass ich auch eine ebensolche Tsahìk (spirituelle Clanführerin) sein werde. Für einen Moment zweifle ich wieder einmal, erkenne aber dann, dass sie Recht hat. Mutter hatte fast immer Recht mit ihren Vermutungen und Vorahnungen, auch wenn sie keine Tsahìk (spirituelle Clanführerin) ist.

Nach einem recht ausgedehnten Abend am ylltxep (Clanfeuer), an dem abermals getanzt und gesungen wird, Geschichten erzählt und von vergangenen Geschehnissen berichtet wird, legen wir uns schlafen. Diesmal übernachte ich in meinem alten Cocoon, während May bei sa'nu (Mama) und Sey'syu, so komisch es klingen mag, neben Nì, dem Jäger schläft. Am Morgen wird mir dann wieder einmal ein Abschied bevor stehen. Ein Abschied, der mich allerdingsnoch lange beschäftigen soll...

Die Reise zurück in unser Heimatlager ist, da Sey'syu und ich nun nun alleine sind und mit Ya'rrì, meinem Ikran (Banshee) fliegen können, nicht so beschwerlich, wie der Weg hier her. Dennoch fliegen wir einen kleinen Umweg, um möglichen Gefahren aus dem Weg zu gehen, die in und über dem großen Wald auf uns lauern könnten, den wir auf direktem Weg überfliegen würden. Flüsse, kleine Seen, eine weite Steppe und ein Gebirge mit hohen, schroffen Felsen überfliegen wir, bis wir dann in der Ferne die Linien erkennen, die unser Land kennzeichnen. Glutrot leuchtet uns eine unserer drei Sonnen den Weg und taucht das Land vor uns in ein Licht, das Wärme und Sicherheit ausstrahlt. Wir landen nur unweit des Lagers, kurz hinter dem See. Sey'syu gibt mir zu verstehen, dass der Flug sie müde gemacht hat, obgleich es ihr auch sichtlich Vergnügen bereitete, so lange auf einem Ikran (Banshee) zu fliegen.

Ich setzte mich noch eine Weile an unser Feuer und schaue mir mein Gewand an, das ich immer noch trage. Die ersten Gedanken an mein Kind überkommen mich. Wird es ihr gut gehen?  Werde ich sie wieder sehen und wenn ja, wie lange werde ich darauf arten müssen?  Müdigkeit überfällt mich und ich lege mich auf eines unserer Felle, schließe meine Augen und schlafe mit der Befürchtung ein, dass ich von nun an sehr oft an das Wesen denken werde, dem ich einst das Leben schenkte und das mir mehr bedeutet, als alles andere...

"Eywal hawnu ngati frakrr, ma May ulte ke tswa' ayoeti." ("Möge Eywa Dich immer und überall beschützen, May und vergiss uns nicht.") flüstere ich, ehe es dann dunkel um mich herum wird...

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