Mittwoch, 30. April 2014

Meresh'ti cau'pla Sey'syuyä / Sey'syus Ikranfänger [Teil 2]

Pxoel fwew pxiutit fte txivula meresh'ti cau'plati Sey'syuä - Hapxì amuve
(Wir drei suchen die Rasiermesserpalme, um Sey'syus Ikranfänger herzustellen - Teil 2)


Im Wald draußen geht es um Leben und Tod. Doch ist es nicht auch der tägliche und ewige Kreislauf?  Mir fallen für kurze Momente Gesichter ein von smuktu (Geschwistern) und eylan (Freunden), die es längst nicht mehr gibt. An ihre Stelle sind andere, ebenso loyale Freunde getreten. Ein Leben endet, während gleichzeitig irgendwo anders ein neues beginnt...  So sitzen wir in unserem Versteck, lauschen und wittern. Der Kampf wird lauter und brutaler. Den aggressiven Schreien können wir anhören, dass Blut fließen muss, sehr viel Blut. Nur einen einzigen, kurzen Blick miteinander austauschend sind Ne'wey und ich uns einig, dass wir hier weg müssen. Wir verlassen unser Versteck, um uns in aller Eile eine neue Deckung zu suchen.


Das Geräusch krachenden und splitternden Holzes großer Bäume dringt in unsere Ohren. Ebenso das laute Raschlen von Zweigen, dünnen Ästen, Blättern und Laub. Ne'wey läuft vor mir, während ich darauf achte, dass Sey'syu dicht hinter mir bleibt. Wir schleichen so schnell und lautlos, wie es uns möglich ist und erreichen irgendwann endlich das Flussufer. Wir müssen uns einen Überblick verschaffen, die Richtung herausfinden, in der der Kampf stattfindet. Als wir unter den riesigen Wurzeln eines großen Baumes einen neuen Unterschlupf finden, nicke ich Ne'wey dankend zu. Sie hatte das Versteck entdeckt und uns hierher geführt. Wir verschnaufen einige Zeit, während dort draußen immer noch ein Kampf tobt, deren Gewalten unvorstellbar sind. Immer wieder bersten Bäume, brechen Äste und Stämme, fliegen irritiert und voller Angst ayfkio (Flamingos), ayikran (Ikrane) und ayayo (Vögel) aus den Baumkronen in den Himmel hinauf. Sie alle suchen Schutz in der Flucht. Möge Eywa sie beschützen...

Mit Schrecken bemerken wir, dass die Kampfgeräusche etwas näher kommen. Die Richtung ist nun klar, dass der Kampf dort stattfindet, an dem wir erst neulich den Schlafplatz vermutlich eines der Kontrahenten fanden und an dem Tsaro seine merkwürdige Paste ausprobierte. Noch bevor Ne'wey uns ein Zeichen zum Aufbruch geben kann, laufe ich bereits los, um nach dem nächsten Zufluchtsort zu suchen. Heruntergefallene Lianen, Laub und Moos versperren mir den Weg in die kleine, aber für uns drei gerade ausreichende Bodenspalte. Ich deute meiner yawntu (Liebsten) und meiner 'eylan (Freundin) an, zu mir zu kommen. Liegend harren wir nun der Dinge, die weiter geschehen sollen.

Als uns abermals sehr laute, von blindem Hass, Wut und auch Schmerz und großem Leid erfülltes Kampfgebrüll erreicht, wird uns an dessen Klang klar, dass dieser Kampf sich nun bald seinem Ende nähert. Wieder einmal wird ein Leben enden, um einem neuen Leben Platz zu machen. Wieder wird Eywa eine Seele zu sich holen. Auch wenn es einer der stärksten und gefährlichsten Jäger eywa'evengs (Pandora) ist, möge die große Mutter seine Seele in sich aufnehmen, um sie dort für alle Zeit als Teil des Volkes weiter leben zu lassen.

Sey'syu ergreift schließlich die Initiative und deutet auf ein neues Versteck, in dem wir abermals Unterschlupf und eine gute Deckung finden. Kaum dort angekommen lauschen wir erneut. Einige brüllende Laute hören wir noch, dann ist es stumm. Nur das Rauschen des Flusses ist zu hören. Schließlich ist es nur noch ein Palulukan (Thanator), dessen Siegesgebrüll wir vernehmen können. Eywa, so kommt mir der Gedanke, hat eine Entscheidung getroffen...

Wir nutzen die Gelegenheit, um nun endlich in unser Lager  zu rennen. Nicht weit vor uns sehen wir unseren See. Nur noch die Anhöhe hinauf, dann ist es geschafft. Etwas schnaufend haste ich bis kurz hinter unseren Torbogen, drehe mich um und sehe, dass Ne'wey und Sey'syu nur wenige Schritte hinter mir sind. Ich atme auf und bin froh, wieder in Sicherheit zu sein. Doch das Glücksgefühl währt nicht lange, denn mir fallen sofort Tac'ìri, Ali'yara und Korlan ein. Ne'wey fragt, ob jemand Sey gesehen hat?  Und wo ist Tsaro?

Entschlossen verkünde ich, mich sofort wieder auf den Weg zu machen, um unseren olo'eyktan (Clanführer) und unsere Freunde zu suchen. Ich kann Ne'weys und Sey'syus Einwände verstehen und natürlich versuchen sie mich zu überreden, doch lieber im Lager zu bleiben, doch mein Entschluss steht fest. "Ich weide den Weg über und durch die Bäume nehmen. Dorthin wird mich kein Palulukan (Thanator) verfolgen.", erkläre ich den beiden. Ich habe meinen Satz jedoch nicht ganz beendet, als Sey plötzlich sehr eiligen Schrittes den Hang hinauf und unter unserem Torbogen hindurch gehastet kommt. Er ist ebenso außer Puste und fragt uns, ob wir das dort, wobei er zum Lager hinaus deutet, auch gehört hätten?

Beinahe einstimmig bejahen wir seine Frage. Um etwas zur Ruhe zu kommen beschließen wir, uns ans Feuer zu setzen. Als ich dann aber die Höhle betrete, fällt mir das Holzyerik in Auge, auf dem Maytame immer so gern sitzt. Irgendetwas überkommt mich und ich schwinge mich auf dessen Rücken. Allerdings nehme ich dabei so viel Schwung, dass das Spielzeugtier mit mir zusammen prompt umkippt und ich auf dem Bauch im Gras neben der Feuerstelle lande. Ich muss einen Moment liegen bleiben, denn mein schallendes Lachen verhindert, dass ich aufstehen kann. Sey, Ne'wey und Sey'syu kommen dazu und ich sehe in ihren Gesichtern ebenfalls Heiterkeit über mein Missgeschick. Wir lachen gemeinsam und dieses Lachen scheint uns alle auch irgendwie zu befreien und zu beruhigen.

Als wir dann am Feuer sitzen, zeigt Ne'wey Sey'syu, wie sie ihren Ikranfänger bauen muss. Derweil unterhalte ich mich mit Sey. Sey'syus Idee, wie wir den Maguyuk einen sicheren Fluchtweg aus ihrem Lager hinaus machen könnten, wurde von allen angenommen. So beraten wir nun darüber, Lianen, Flechten und Holz zu besorgen, um die Wege durch und über unsere Bäume bis zum Lager unserer Freunde weiter auszubauen. Es wird viel Arbeit auf uns zu kommen, doch wir werden sie gerne verrichten.

Plötzlich, ich schaue gerade, wie Sey'syu die Blätter der pxiut (Rasiermesserpalme) bearbeitet, ergreift Sey mein Handgelenk. Sein Griff ist überraschend fest, schmerzt aber nicht. Als ich ihm meinen Kopf zuwende, schaut er mich leicht lächelnd, aber stumm an. Meine Frage: "Kempe seri nga, ma Sey?" ("Was machst Du da gerade, Sey?")  lässt er ebenfalls unbeantwortet. Dann plötzlich schießt es mir durch den Kopf, was er mit dieser Geste ausdrücken will und ich nicke ihm zu. Als er mich dann wieder loslässt, lege ich meinen Arm, um nun meinerseits den Kontakt zu ihm, dem olo'eyktan (Clanführer) herzustellen, denn genau dies beabsichtigte er mit seiner Geste gerade. Er gibt mir damit mehr als deutlich zu spüren, dass er mich als künftige tsahìk (spirituelle Clanführerin) anerkennt. 

Er steht dann etwas überraschend auf und geht in Richtung des Torbogens. Ich folge ihm und wir reden einige Sätze miteinander. Ich empfinde dieses Gespräch beinahe als das erste Gespräch zwische tsahìk (spirituelle Clanführerin) und olo'eyktan (Clanführer), denn was Sey sagt, wie er e sagt und was ich darauf erwidere, spiegeln das wieder, was wir beide täglich erleben und was wir uns auch wünschen. Aus den Rey'engya ist ein starker Clan geworden, dessen Mitglieder in einer Art miteinander verbunden sind, die wir beide bisher in dieser Form nicht erlebt haben.

Ne'wey und Sey'syu kommen auf uns zu, als ich gerade meine Hand auf Seys Herz gelegt habe und er dies bei mir ebenso tut. Es ist mir nicht unangenehm und ich finde es keineswegs verwerflich, zeigt diese Geste doch allen den Zusammenhalt und das gegenseitige Vertrauen an. Meine yawntu (Liebste) und meine 'eylan (Freundin) wünschen uns eine gute Nacht und verschwinden dann in unserer Höhle, während Sey mir erklärt, von einem Hügel aus das Lager zu bewachen.

Ich gehe zurück zum Feuer, lege mich hin und mein Blick fällt wieder auf Maytames Holzyerik. War ich eben bei Sey noch von innerer Stärke durchflutet, werde ich nun umso schwächer. Ich sehe sie vor mir, sehe ihr hübsches Gesicht, die dunklen Augen ihres sempu (Papas)  und ich höre ihr helles, unbeschwertes Lachen. Ich halte mir die Ohren zu, doch ihr Lachen bleibt. Es kommt tief aus meinem Inneren. 

Wie lange wird dieses Gefühl noch anhalten?  Wie viele dieser Gedanken werden mich noch quälen?  Wieder kommt in mir der Wunsch auf, einfach loszufliegen, um sie zurück zu holen und wieder sage ich mir, dass sa'nu (Mutti) und die Weytana (Kxìryas Elternclan) für sie sorgen werden. Mein Herz fühlt sich an, als wäre es aus Stein und ich fange an zu weinen. "Ma nawma Eywa...", spreche ich zittrig und leise: "Rutxe tìng oer seykxelit." ("Große Eywa, bitte gib mir innere Stärke."), bis der Schlaf mir endlich meine Sinne schwinden lässt...

Keine Kommentare :