Mittwoch, 26. Juni 2013

Iknimaya oeyä / Mein Iknimaya

Set oe lu taronyu Rey'engyayä nìwotx ulte oer lu wina ikran aean.
(Nun bin ich Jäger der Rey'ebgya und habe einen schnellen und blauen Ikran)

Große Mutter, bin ich vielleicht aufgeregt heute Morgen. Wenn mir das mal irgendjemand vorher erzählt hätte, dass man in der Nacht vor seinem Iknimaya (Prüfung für Jäger und Krieger)  so unruhig schläft. Na, immerhin fühle ich mich ausgeschlafen und bereit, mich dieser harten und gefährlichen Prüfung zu stellen. Doch zuerst schaue ich mal nach Kxìrya, die seit gestern in ihrem Cocon liegt. Sie bat mich am Abend, sie zur Höhle zu begleiten, da ihr der Rücken sehr schmerzte. Sie meinte, es käme von dem Baby, das inzwischen doch ganz ordentlich nach vorne zieht. Aber ich glaube, sie traut sich manchmal einfach etwas zu viel alleine zu und sie sollte mal öfter an sich selber denken. Ich hoffe jedenfalls, es ist nichts schlimmes und sie ist bald wieder auf den Beinen. Möge Eywa sie nicht so sehr leiden lassen. Ich nehme mir aber auf alle Fälle vor, ihr in allen Einzelheiten von meiner Prüfung, sollte ich sie denn überleben, zu berichten und wenn ich dies neben ihrem Cocon kniend tun muss...


Doch zuerst warte ich etwas ungeduldig auf Kee'lanee, unsere Tsahìk (spirituelle Ulanführerin). Ich möchte, bevor wir gemeinsam den gefährlichen Weg hinauf in die Iknimayaberge (schwebende Felsen) beschreiten, noch ein Gebet zu Eywa sprechen, damit sie mir vielleicht etwas dabei hilft. Kee erfüllt mir diesen Wunsch. Sie ist inzwischen wirklich beinahe so etwas wie eine sa'nok (Mutter) für mich geworden. Sie begleitet mich aber nicht einfach nur zum vitra utral (Baum der Seelen), sondern spricht auch gemeinsam mit mir zu Eywa. Ich spüre, wie meine innere Anspannung ein Stück weit zurück geht, doch mein Herz schlägt trotzdem noch sehr schnell in meiner Brust. Wir verbringen eine ganze Weile bei dem Baum und ich bemerke gar nicht, dass Kees muntxatan (Ehemann), unser Olo'eyktan (Clanführer) inzwischen auch zu uns gekommen ist. Nachdem Kee und ich dann unser Gebet beendet haben, begrüßen sich die beiden in ihrer bekannt liebevollen Art, während ich schon einmal die Brücke zu unserem Lager überquere.

Dort angekommen, treffe ich auf Ma'wey, meine karyu (Lehrerin), was mein Herz gleich wieder viel höher schlagen lässt. Wie immer, begrüßen wir uns respektvoll, doch ich spüre wieder einmal, dass da etwas mehr in mir ist, als ich ihr gegenüber stehe. Leider ist jedoch heute keine Zeit dafür, aber trotzdem bin ich sehr froh, dass sie heute den Weg mit mir zu teilen bereit ist. Kee'lanee und Sey folgen mir nach wenigen Augenblicken und begrüßen Ma'wey ebenfalls freundlich und respektvoll. Sey schaut sich dann im Lager um, ob uns noch jemand begleiten will, aber wir scheinen die einzigen zu sein.

Er beschließt dann, dass ich, als vielleicht zukünftiger taronyu (Jäger), die Gruppe anführen soll. Über den schmalen Weg, der zu dem Aufstieg zu den Iknimayafelsen (schwebende Felsen) führt, gehe ich dann voraus, bis ich zu den Lianen komme, die unsere erste Etappe bedeuten. Bevor ich jedoch die erste ergreife, werfe ich der mir folgenden Gruppe einen Blick zu. Anspannung spüre ich, doch ich spüre auch den Mut in mir, diese Sache jetzt und heute schaffen zu wollen. Und ich spüre, dass die Gruppe um mich herum mich nicht nur begleitet, sondern dass sie hinter mir stehen. Der erste Felsen ist zwar recht hoch, aber ich schaffe es gut und bin, als ich ihn dann erreiche, zum Glück noch nicht sehr außer Atem, denn der Weg ist noch weit und er wird noch sehr viel anstrengender werden, sollten die Erzählungen des Clans wahr sein...

Von dem ersten Felsen geht es dann über die großen Luftwurzeln weiter nach oben zum Nächsten. Doch zuvor schauen wir uns um und sehen in unser Tal hinunter. Schließlich klettere ich wieder voraus, wobei ich sehr vorsichtig bin. Sey und Ma'wey betonten es immer wieder, dass sie Luftwurzeln unterwegs manchmal sehr rutschig sein können. Da es aber einige Tage lang nicht geregnet hatte, scheinen sie etwas trockener und daher auch griffiger zu sein. Kee ist fasziniert von der schönen Aussicht über das Tal und auch ich kann mich dieses Anblicks nicht immer wirklich entziehen, aber ich muss mich auf diese Sache, meine Prüfung, konzentrieren und habe daher heute nicht so wirklich einen Sinn dafür...

Als wir auf dem nächsten Felsen ankommen, sind alle sehr am Keuchen und Prusten, weil es nun doch sehr anstrengend für uns wird. Die Sonne steht mittlerweile hoch oben am Himmel und treibt uns zusätzlich den Schweiß auf unsere Körper. Der lauwarme Wind sorgt zwar nur für eine schwache Abkühlung, aber immerhin ist dies besser als nichts. Wir machen eine weitere, längere Pause und verschnaufen etwas. Doch immer noch liegt ein sehr großes Stück des Weges vor uns und so ziehen wir, ich wieder allen voran, dann irgendwann weiter, den Ikranen entgegen...
Der Weg wird nun deutlich beschwerlicher, weil die Luftwurzeln immer feuchter und damit rutschiger werden. Als ich mich hangelnd an der Wurzel entlang bewege, gelingt es mir nur um Haaresbreite, einem Sturz in die Tiefe zu entgehen, indem ich meine Beine um die Wurzel klammere. Zwar höre ich die erschreckten Zurufe der anderen, kann mich aber darum im Moment überhaupt nicht kümmern. Mit großer Mühe, mein Puls rast nur so, ziehe ich mich dann wieder auf die Wurzel hinauf, verschnaufe kurz und setze dann meinen Weg fort. Von jetzt an ist höchste Vorsicht geboten und ich danke innerlich der großen Mutter, dass sie mich nicht hat hinabstürzen lassen.

Ein erfreuter Ausruf Kees ist es, der uns alle am Ende der nächsten Luftwurzel aufschauen lässt. Der Schweiß rinnt mir in dicken Perlen vom Körper hinab, ich keuche vor Anstrengung und verfluche ein wenig den heutigen Tag, doch der Anblick, der sich uns und vor allem mir jetzt erschließt, belohnt die großen Anstrengungen auf einen Schlag. Wir sehen den Felsen, auf dem die Ikrane (Banshees) leben, direkt vor uns. Nur ein kleines Stück trennt uns noch von ihm, aber eines, das es in sich hat. Wir müssen den richtigen Moment abpassen, um dann über einen vorüberfliegenden Felsen zu den Ikranen zu gelangen. Laufen wir zu früh oder zu spät, geht es sehr schnell und tief abwärts...

Es klappt. Deswegen, weil wir eine Gruppe sind, die sich blind aufeinander verlassen kann. Gemeinsam rennen wir im richtigen Moment los und kommen nahezu gleichzeitig auf dem Ikranfelsen an. Geschafft, aber doch noch nicht so ganz, denn was nun kommt, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausdenken können. Es ist schon beklemmend und mir schießt das Blut bis in meinen Kopf hinauf, als sie mich anstarren. Einige fauchen, andere krächzen und starren mich immer wieder und zum Teil nicht friedselig an. Im Hintergrund sehe ich Kxìryas Ikran (Banshee), der sich aber zurück hält. Ebenso wie Seys, der mich nur einiger flüchtiger Blick würdigt. Ich erschrecke erst für einen Moment, als mir von schräg oben eines der Tiere direkt vor die Füße springt. Was hatte Ma'wey mich immer gelehrt?  Man spürt es tief in seinem Innern, wenn man von einem Ikran (Banshee) ausgewählt wird. Er soll es offenbar nicht sein, denn bei ihm spüre ich nichts besonderes. Ein weiteres Tier flüchtet sich mit einem Sturzflug in die Tiefe, als ich versuche, auf es zu zu gehen.

Schließlich, als ich mich umdrehe, blicke ich direkt in zwei mich funkelnd anstarrende Augenpaare und im selben Moment durchzuckt ein Blitz meinen ganzen Körper. Ich weiß sofort, er ist es Das Blitzen in seinen Augen, dieses freche und fast wie ein zu einem hämischen Lachen aufgerissene Maul und seine gesamte Körpersprache sagen mir, dass er mich auserwählt hat. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo ich meinen Ikranfänger, den ich die ganze Zeit über hinter meinem Rücken verborgen hatte, hervor hole. Das Tier beobachtet mit regem Interesse jede meiner Bewegungen und ich fühle mich fast klein und ihm gegenüber wehrlos ausgeliefert, als ich langsam und Schritt für Schritt auf ihn zu gehe...

Mein Blut scheint in mir zu kochen und ich muss mich zur Ruhe und Konzentration zwingen. Als er nach mir schnappen will, schlinge ich ihm meinen Ikranfänger um sein Maul, um ihn genau daran zu hindern. Was nun beginnt, ist ein Kampf, der mir endlos lang, wie ein ganzes Leben vorkommt. Auch wenn alle mir wieder und wieder erklärt haben, dass ich so schnell wie möglich versuchen soll, meinen Zopf mit dem Tier zu verbinden, stelle ich jetzt fest, dass dies bedeutend leichter gesagt als getan ist. Mich um seinen Hals klammernd versuche ich, seinen Kopf zwischen meine Beine zu klemmen, um meine Hände frei zu bekommen.

Doch er hat Kraft, sehr viel Kraft. Ich bemerke, dass er immer näher und näher mit mir auf den Rand des Felsens zusteuert und versuche dem entgegen zu wirken, doch es gelingt mir einfach nicht. Ich habe das Gefühl, dass mich jeden Moment meine Kräfte verlassen und dass er dies genau weiß und nur darauf wartet, um mich dann endlich töten zu können. Es gelingt ihm schließlich sogar, mich abzuwerfen, um nach mir zu schnappen, aber mein Ikranfänger, der ihm um sein Maul geschlungen ist, verhindert dies. Aber ich muss unheimlich aufpassen, dass ich nicht von dem Felsen stürze. Kee'lanee, Sey und Ma'wey rufen mir immer wieder irgendetwas zu, das ich jedoch größtenteils nicht wirklich verstehe. Ich bin einfach zu beschäftigt, dieses Tier bezwingen zu wolen. Offenbar wünschen sie mir Glück und feuern mich an. Einige Male höre ich den Kampfschrei der Rey'engya, was meinen Kampfgeist immer weiter steigert. Ich weiß nicht, wie oft ich schon versucht habe, nach meinem Zopf zu greifen, um dieses Tier endlich zu bezwingen, als es mir dann endlich gelingt. Für mich vergeht eine Ewigkeit, bis sich die Nerven des Ikrans (Banshees) dann mir mit denen meines Zopfes verbinden. Ich höre, wie mir das Blut ein pulsierendes Rauschen in den Ohren verursacht, das dann aber, von einem zum anderen Moment verstummt und ich ihn, den Ikran (Banshee) spüre. 
Zuerst sind es nur sehr undeutliche Farben, Bilder und verworrene Gefühle, die ich wahrnehmen kann. Ich höre Kee und Ma'wey brüllen, dass ich losfliegen soll. An mein erstes Kommando: "Flieg!" werde ich mich wohl Zeit meines Lebens  erinnern können, denn augenblicklich beginnt ein wahrer Albtraum. Wir stürzen uns völlig unkoordiniert in die Tiefe, der Ikran (Banshee) kreischt wieder und wieder und ich bekomme Angst. Mir endlos erscheinende Momente dauert es und es kostet mich viel Konzentration, bis wir über unsere Verbindung nach und nach immer mehr in Einklang miteinander kommen. Manchmal habe ich große Mühe, mich überhaupt richtig an dem Tier festhalten zu können. Doch ist dieser erste Flug für mich wohl das Aufregendste, spannendste und auch gefährlichste, was ich bisher erlebt habe. Diese Iknimayaprüfung (Prüfung für Jäger und Krieger) lässt so manchen Angriff der sawtute (Himmelsmenschen), die ich mit Nay (Txuratxans verschollener Bruder) erlebt habe, wie ein Kinderspiel erscheinen. Wir jagen in sehr knapper Höhe über Bergkuppen hinweg, durchstoßen mit sehr hoher Geschwindigkeit den Dschungel, dann steigen wir wieder in Richtung der Iknimayafelsen (schwebende Felsen) auf, nur um dann wieder im direkten Sturzflug nach unten zu jagen.

Immer wieder erschrecke ich jedoch, wenn wir, nur mit einer Handbreit Platz rechts und links neben uns durch eine enge Felsspalte brausen. Mein Ikran schreit und krächzt fortwährend. Dann, ganz plötzlich, stellt sich ein sehr ruhiger Flug ein und augenblicklich werden die Bilder vor meinem inneren Auge klar und deutlich. Jetzt, so spüre ich, ist unsere Verbindung vollkommen miteinander verschmolzen und es entsteht eine Art stummes Zwiegespräch zwischen dem Tier und mir. Jedes beliebige Kommando wird im selben Moment, da ich es denke, von ihm umgesetzt und ebenso teilt er mir seine Gedanken mit. KxÌrya hat nicht übertrieben, als sie mir einmal davon erzählte.

Als ich nach sehr langer Zeit dann unser Lager erblicke, setzen wir zu unserer ersten gemeinsamen Landung an, die nochmal etwas turbulent wird. Ich muss einfach nur besser in Einklang mit ihm kommen, bin aber sicher, dass dies nur eine Frage der Zeit ist. Sey, Kee und Ma'wey warten schon auf mich und beglückwünschen mich zu meiner erfolgreich abgeschlossenen Prüfung. Sey überreicht mir dann ein Stück Holz, aber es ist nicht einfach nur irgendein Ast. Er erklärt mir, dass er aus dem Holz des Heimatbaumes des Clans ist, in dem Seys Mutter lebt. Daraus werde ich mir einen Bogen machen, der denen der Rey'engya würdig ist. Sey ist wirklich wie ein sempul (Vater), weshalb ich ihn ab sofort auch so ansprechen werde, um ihm gegenüber immer meinen Respekt und auch meine Dankbarkeit zu zeigen. Ob ich jedoch Kee nun sa'nok (Mutter) nennen darf? Ich glaube, ich werde es einfach ausprobieren und abwarten, wie sie darauf reagiert...

Kee'lanee und Ma'wey scheinen sehr erledigt zu sein, was ich nur zu gut verstehen kann. Auch ich würde mich am liebsten ausruhen, doch Sey hat noch etwas besonderes für mich vorbereitet. Während er seine Hand in eine mit Yerikblut (hirschähnliches Tier) taucht, erklärt er mir, dass das, was er jetzt tun wird, ebenfalls eine Tradition seines elterlichen Clans ist. Er drückt mir dann seine blutige Hand auf mein Herz und ich spüre, dass er dies nicht nur der Tradition wegen macht, sondern weil er mich ab jetzt als vollwertiges Mitglied der Rey'engya betrachtet.

Mit einem Leuchten in seinen Augen holt er dann einen großen Krug hervor und schenkt uns beiden einen, wie er erläutert, besonderen Beerenwein ein, dessen erster Schluck mir fast die Kehle von innen heraus aufzuschneiden scheint. Aber nach einigen Momenten lässt dieses Gefühl nach und wir trinken und feiern den Tag noch eine Weile, wobei ich jedoch sehr schnell bemerke, dass es mir sehr schwindelig von dem Getränk wird.

Irgendwann, ich weiß nicht einmal genau, wieviele Becher wir noch trinken, wird dann alles um mich herum dunkel. Ich glaube, den Schein unseres Feuers zu sehen, aber dies kann auch eine Täuschung sein oder ein Traum...


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