Dienstag, 2. April 2013

Tìsop iknimayane / Reise zu den Iknimayafelsen

Oel 'awsìteng Seyhu tsyìl iknimayat
(Sey und ich erklimmen zusammen die schwebenden Felsen)


Etwas lautes reißt mich aus dem Schlaf. Im ersten Moment denke ich, es ist Tsìlpey, die wohl Hunger hat, aber ich hatte wohl geträumt, denn sie schläft fest in Kee'lanees Armen. Winataron liegt, ebenfalls noch in tiefem Schlaf neben mir und ich muss mich aus seiner Umarmung etwas herauswinden, um von unserem Lager aufstehen zu können. Es ist noch sehr früh, wie ich schon sehr bald feststelle, denn die Sonne beginnt erst gerade eben hinter dem Horizont aufzugehen.

Sehr leise gehe ich zu einem der kleinen Wasserfälle, die sich im unteren Teil unserer Höhle befinden um mich etwas zu waschen, doch mir kommt dann die Idee, im Fluss schwimmen zu gehen. So drehe ich dort einige Runden, tauche unter dem großen Wasserfall hindurch und schwimme zum Spaß mit einigen Fischen um die Wette.

Um mich von der inzwischen halb aufgehenden Sonne trocknen zu lassen, schwimme ich zu einem im Fluss treibenden Baumstamm, lege mich der Länge nach darauf und schaue zum Lager hinüber. Es ist noch immer alles still dort drüben...

Nach einiger Zeit höre ich dann eine Stimme, die mir zuruft und ich erkenne Sey, der am Ufer des Flusses steht. Ich stutze etwas, denn er hat ein Säckchen dabei, in dem er für gewöhnlich einige Dinge verstaut, wenn er auf eine Reise geht und ich frage mich und auch ihn, ob und wohin er gehen mag?  Er beantwortet mir die Frage und deutet zu den Iknimayabergen (schwebende Berge) hinauf: "Warst Du schon einmal dort oben und hast Dich dort umgesehen?", erkundigt er sich bei mir, was ich jedoch verneine, denn bisher hat sich für mich noch nie die Notwendigkeit ergeben, zu den schwebenden Bergen hinauf zu gehen.

Er nickt mir zu: "Siehst Du, ma Kxìrya, für mich auch nicht. Aber ich denke, bevor wir unseren jungen Jägern zumuten, dort hinauf zu klettern, da sollten wir uns vorher mal den Weg hinauf anschauen, oder?"  Ich kann nicht anders, als Sey zuzustimmen, wir stellen aber dann fest, dass wir noch nicht einmal genau wissen, wo denn der Aufstieg ist. Wir beschließen, gemeinsam danach zu suchen und beginnen, weil ich Sey berichte, dort schon einmal einige Lianen gesehen zu haben, im Tal der Stimmenbäume.

Doch meine Ahnung sollte sich als falsch erweisen, denn die einzige Liane, die ich finde, führt zwar nach oben, endet jedoch nur im Geäst eines sehr hohen und alten Baumes. So suchen wir weiter und schließlich finden wir den offensichtlichen Aufstieg. Er liegt, man könnte fast darüber schmunzeln, genau über dem großen Baum, der oben auf dem Felsen unserer Höhle wächst.

Den Baum hinauf zu klettern, erweist sich als überraschend einfach, aber der sehr langen Liane bis hinauf zu folgen, ist selbst für geübte Jäger wie Sey und mich ein kleines Wagnis. Etwas außer Atem kommen wir auf dem ersten, einem recht kleinen, schwebenden Felsen an und schauen uns erst einmal um. Die Aussicht von hier oben ist einfach wunderbar und Sey bemerkt, dass man den Zerfall der Menschenhütten von hier oben besonders deutlich sehen kann.
Nach einer kleinen Verschnaufpause geht es dann über die erste Luftwurzel zum nächsten Felsen hinauf. Es ist zwar ein wenig rutschig, wir kommen aber dennoch recht gut vorwärts. Als wir schließlich auf einer etwas größeren Plattform stehen und abermals hinunter ins Tal schauen, bemerken wir den leichten Nebel, der uns die Sicht ein wenig nimmt. Aber wir sind noch lange nicht ganz oben ..

Wir bemerken beide, dass der Aufstieg von hier an gefährlicher wird, da, bedingt durch den Nebel und die ständige Luftfeuchtigkeit die Wurzel sehr glitschig ist und man sehr auspassen muss, um nicht abzurutschen. Sey bemerkt, dass es unsere eveng (Kinder, Jugendliche, hier Auszubildende) nicht leicht haben werden, ihre Iknimayaprüfung (Prüfung für junge Jäger und Krieger) abzulegen. Aber ich bin zuversichtlich, weil ich weiß, dass wir alle unser Bestes geben, um unsere numeyu (Schüler) zu guten Jägern und Kriegern auszubilden.

Bevor wir dann weiter ziehen, beschließen wir, uns etwas genauer umzusehen und ich entdecke einige Pflanzen, die ich mir genauer ansehe, um festzustellen, ob vielleicht Heilpflanzen darunter sind. Mein Blick fällt dann auf eine Pflanze ganz besonderer Art und ich vertraue dann, nach genauem Hinsehen und Fühlen Sey ein Geheimnis an, dass er aber wissen sollte. Auch Kee wird davon erfahren, denn als Tsahìk (spirituelle Clanführerin) muss sie es einfach wissen.

Dann wird es noch einmal sehr schwierig, denn wir finden eine weitere Liane, die uns weiter nach oben bringt. Diese schwingt allerdings im hier oben ständig wehenden Wind stark hin und her und man muss wirklich den richtigen Zeitpunkt abpassen, um sie zu erwischen.

Sey schafft es als erster und mir gelingt der Aufstieg dann auch einige Momente später. Oben angekommen, müssen wir abermals verschnaufen, aber wir werden mit einer einfach nicht zu übertreffenden Aussicht auf den Felsen belohnt, auf dem die Ikrane (Banshees) leben. Es trennt uns nur noch ein kleines Stück, jedoch auch ein tiefer Abgrund von dem Felsen. Wir müssen abwarten, bis ein anderer, vorüberziehender Felsen uns den Übergang ermöglicht. Ein nicht ganz so leichtes Unterfangen...

Dann stehen wir, etwas außer Atem, vor einem großen Steinbogen, auf dem und um den herum sich etliche Ikrane tummeln. Einige flüchten vor uns, aber ein paar von ihnen bleiben zurück, halten sich jedoch in einigem Abstand zu uns und es macht nicht den Anschein, als wollten sie uns angreifen. Wir schauen uns vorsichtig, aber dennoch genau um und plötzlich vernehme ich den Schrei eines mir wohlbekannten Ikrans. Es ist Ya'rrì, mein treuer Begleiter. Zum Glück hat Sey einige Stücke Trockenfleisch eingepackt, denn die hatte ich in der Eile vorhin im Lager vergessen. Ich werfe Ya'rrì zwei Stücke zu und streiche ihm über seinen Hals, dann lasse ich ihn mit seinen Freunden ziehen.

Natürlich muss er, gewitzt, wie er nun enmal ist, wieder mal ein Spektakel besonderer Art vollführen und ich muss etwas schmunzeln, als er sich im Sturzflug in die Tiefe stürzt. Dann sind Sey und ich wieder alleine und nur einige wenige Tiere bleiben auf dem Felsen zurück.

Sey und ich genießen die wundervolle Aussicht, denn von hier oben ist der Untergang der tiefroten Sonne besonders eindrucksvoll zu sehen. Es vergeht eine lange Zeit und wir sprechen über viele Dinge, auch über Txuratxan, unseren wahrscheinlich nächsten Anwärter für das Iknimaya (Prüfung für Jäger und Krieger). Dann beschließen wir, zu dem dicht bewachsenen, etwas tiefer liegenden Felsen zurückzukehren, um dort die Nacht zu verbringen. Der Abstieg ist noch einmal etwas mühsam und vermutlich werden wir wohl morgen auch unsere Ikrane rufen, um mit ihnen ins Tal zurück zu fliegen.

So suchen wir uns ein Plätzchen, an dem wir einigermaßen geschützt sind und legen uns dann schlafen. Während ich die langsam aufgehenden Sterne beobachte, bemerke ich, dass Sey plötzlich beginnt, ein Lied zu singen. Es ist ein sehr schönes und etwas trauriges Lied und ich muss zugeben, dass mir beim Zuhören eine kleine Träne aus dem Auge und an meiner Wange herunter läuft. Obwohl ich das Lied nicht kenne, versuche ich, Seys Melodie leise mitzusummen.

Er ist einfach ein großartiger Olo'eyktan (Clanführer), denke ich bei mir, doch dann schlummere auch ich irgendwann dahin, während mir Seys Melodie noch in meinen Kopf nachklingt...

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